Das Verfahren gegen den Nationalsozialistischen Untergrund ist einer der wichtigsten Prozesse der Nachkriegsgeschichte und gleichzeitig eine Tiefenbohrung in die deutsche Gesellschaft. Die Gerichtsprotokolle sind ein historisches Dokument.

DAS VORWORT

Der Prozess gegen die rechtsradikale Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) war einer der größten und längsten Prozesse der Nachkriegszeit. Doch das ist nicht der Grund, warum er nun in einer Reihe mit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen, dem Auschwitz-Prozess und den RAF-Verfahren steht, die alle Abgründe einer Epoche aufgearbeitet haben. Nicht seine Länge von 438 Verhandlungstagen war dafür ausschlaggebend und auch nicht die bloßen Zahlen: fünf Angeklagte, 14 Verteidiger, rund 90 Nebenkläger und mehr als 600 Zeugen. Das, was das Verfahren von München zu einem wirklich historischen Prozess machte, war etwas anderes.

Dieser Prozess war ein Lehrstück deutscher Geschichte. Eine Tiefenbohrung in die deutsche Gesellschaft, die gefährliche Sedimente unter der Oberfläche wirtschaftlich blühender Landschaften und einer scheinbar gefestigten Demokratie zutage förderte: brave Bürger, die im Keller unterm Hitlerbild sitzen; fleißige Angestellte, die nichts dabei finden, ihren Pass und ihren Führerschein untergetauchten Neonazis zu überlassen; eifrige Verfassungsschützer, die ihre rechtsextremistischen V-Männer mit Steuergeld unterstützen, ohne wirklich Wichtiges zu erfahren; Polizisten, die die Witwe eines türkischen Opfers anlogen und sagten ihr toter Mann habe eine deutsche Geliebte gehabt – nur um ihr angeblich verstocktes Schweigen zu brechen. Vor Gericht traten dann die wirklich Verstockten auf: eine Phalanx schweigender Rechtsradikaler, die auch durch zehn  heimtückische  Morde nicht zu erschüttern war.

Der NSU-Prozess sollte zehn Morde, zwei Bombenanschläge und 15 Raubüberfälle klären und die individuelle Schuld der fünf Angeklagten. Doch er gab auch den Blick frei in die Seele von Demokratiefeinden, legte die Fehler des deutsch-deutschen Zusammenwachsens bloß und sezierte die Verwerfungen nach dem 9. November 1989. Wie unter einem Brennglas zeigte er die dunklen Seiten von fast 30 Jahren Nachwendezeit.

Als der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) sich im November 2011 selbst enttarnte, da blickte die scheinbar wohlgeordnete Republik plötzlich in einen Abgrund, den sie nicht für möglich gehalten hatte. Über Nacht wurde klar, dass eine bis dahin unbekannte rechtsradikale Terrorzelle für viele Verbrechen im Land verantwortlich war, die seit dem Jahr 2000 für Aufsehen gesorgt hatten, aber nicht aufgeklärt werden konnten: für die Morde an acht Männern mit türkischen und an einem mit griechischen Wurzeln in München, Nürnberg, Hamburg, Rostock, Dortmund und Kassel, auch für den ungeklärten Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße und einen Anschlag auf einen Lebensmittelladen in der Kölner Probsteigasse, zuletzt für den Mord an einer Polizistin in Heilbronn. Für alle diese Taten hatte die Terrorzelle NSU die Verantwortung übernommen – mit einem Bekennervideo. Dieses über Jahre hinweg immer wieder überarbeitete Video zeigte die toten und sterbenden Opfer des NSU aus nächster Nähe, die Trickfilmfigur Paulchen Panther machte dazu menschenverachtende Witze. Die Republik war entsetzt.

Bundespräsident Christian Wulff traf sich mit den Opferfamilien, sein Nachfolger Joachim Gauck lud sie in seinen Amtssitz Bellevue. Arbeitgeber und Gewerkschaften verabredeten eine Schweigeminute in den Betrieben. Bundeskanzlerin Angela Merkel lud die Angehörigen der Ermordeten zur Trauerfeier nach Berlin. Dort bat sie um Verzeihung dafür, dass die Terrorzelle so lange nicht gefunden worden war. Die Morde des NSU seien ein Anschlag auf die Grundwerte Deutschlands, sie seien »ein Anschlag auf unser Land. Sie sind eine Schande für unser Land.«

Und Merkel verpflichtete sich und die Regierung: „Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen.“ Nach Ende des Prozesses bleibt das Fazit: Das ist nicht gelungen.

Politische Konsequenzen

Selten hat ein Verbrechen das Land so aufgewühlt wie die Mordserie des NSU. Denn der NSU stellte auch alle Gewissheiten der Sicherheitsbehörden infrage. Die hatten jahrelang die Überzeugung zur Schau gestellt, dass es in Deutschland keinen Terror von rechts gibt. Die Taten, so erklärten sie wiederholt, mussten auf die türkische Mafia zurückgehen oder auf Revierkämpfe im Rauschgiftmilieu. Die Medien nannten die Morde an den neun Migranten auch abfällig „Dönermorde“ – allein dieses Wort zeigte schon, wer im Verdacht stand. Die immer drängenderen Fragen der Angehörigen, ihre Hinweise, dass es sich bei dem Serienmörder um einen »Türkenhasser« handeln musste, wurden nicht ernst genommen.

Der Verfassungsschutz hatte Fragen nach der Existenz einer braunen RAF (der linksextremen Rote Armee Fraktion, die in den  70er, 80er und 90er Jahren mordete) stets abgetan: Zu dumm seien die Rechten, zu sehr seien sie von Staatsspitzeln umstellt, als dass sich Terrorzellen unbemerkt entwickeln könnten. Zu sehr fehle es ihnen auch an einer intelligenten Führungsfigur. Dabei brauchten die Radikalen gar keinen Führer mehr. In der rechten Szene kursierte längst das Buch »Die Turner Tagebücher« des amerikanischen Rechtsradikalen William L. Pierce, wonach es zu einem Kampf der Rassen gegeneinander kommen werde und die Weißen Terrorzellen bilden müssten, um »leaderless resistance« (führerlosen Widerstand) zu leisten – aber das hatten die Verfassungsschützer nicht ernst genommen. Auch auf den Computern etlicher Angeklagter im NSU-Prozess wurden die »Turner Tagebücher« gefunden.

Auf die Selbstenttarnung des NSU folgte in den Monaten darauf der Rücktritt des Präsidenten des Bundesverfassungsschutzes und der Präsidenten der Landesverfassungsschutzämter von Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Berlin. Fast ein Dutzend Untersuchungsausschüsse machten sich an die Arbeit, Behördenleiter wurden vernommen, Verantwortlichkeiten hinterfragt, Beamte ins Kreuzverhör genommen. Entdeckt wurden: lähmende Bürokratie, Dienst nach Vorschrift, ein Gegeneinander in den Ämtern, Abschottung der Dienste, gravierende Fehleinschätzungen. Und der nach Aufklärung drängende Verdacht, dass bei manchem Verfassungsschützer auch das rechte Auge zugedrückt wurde. So erklärte zum Beispiel ein Verfassungsschützer aus Thüringen noch vor Gericht, er habe seinen Spitzel »gut im Griff« gehabt – er meinte jenen V-Mann, der einen Großteil seines Honorars von rund 200.000 Mark an seine Neonazi-Freunde weitergeleitet hatte. Und ein Beamter des Bundesverfassungsschutzes schredderte noch nach der Enttarnung des NSU geheime Akten zur rechten Szene in Thüringen. Er wusste, wie viele V-Leute sein Dienst dort hatte und wollte, so sagte er, unbequeme Nachfragen dazu verhindern, warum die Geheimdienste dennoch nichts über den NSU wussten. Der Mann bekam eine kleine Geldstrafe und wurde dann in eine andere Behörde versetzt.

Am Ende des zweiten Untersuchungsausschusses des Bundestags im Sommer 2017 waren sich viele Prozessbeobachter sicher: Polizei und Verfassungsschutz hätten die Morde verhindern können, wenn sie die Hinweise ihrer V-Leute ernst genommen und schnell eingegriffen hätten.

Viele Stunden parlamentarischer Kontrollarbeit, Tausende Seiten Papier. Aber nirgendwo gelang die Tiefenbohrung in die deutsche Gesellschaft so präzise wie im Gerichtssaal A 101 des Oberlandesgerichts München. Nirgendwo kam man den Tätern, ihren Helfern, ihren Sympathisanten und ihren Motiven so nah wie hier.

Manfred Götzl, Richter. Daniel Q., 51, Polizeibeamter aus Köln. Elke van O., Kommissarin aus Köln. M. M., 32, Chirurgin aus Köln. Edith Lunnebach, Mehmet Daimagüler, 45, Anwälte der Nebenklage. Wolfgang Heer, Olaf Klemke, Verteidiger.

4. Juni / Tag 118

Polizeibeamter Daniel Q., 51, Köln.

Götzl Es geht uns um Ermittlungen wegen einer Blechdose,  die Sie durchgeführt haben.

Ich kann mich gut erinnern, weil mich das auch persönlich sehr berührt hat. Ich war am Tatort. Ich hab das Bild der Verwüstung gesehen. Ich war auch im Krankenhaus, ich hab e das Mädchen da in der Schwerst-Verbrennungs-Klinik liegen gesehen, das Bild hat sich mir eingeprägt, das werde ich nie vergessen. Wir haben hochmotiviert ermittelt, sind jeder Spur nachgegangen, haben jeden Grashalm ergriffen, um den Hintergrund der Tat zu beleuchten. Wir haben das Umfeld der Familie untersucht, wir vermuteten ein persönliches Rachemotiv.

Götzl Und Ihre Ermittlungen zu der Dose?

Das LKA hatte am Tatort Reste einer Dose gefunden. Über den Barcode habe ich den Hersteller in Rheinland-Pfalz ermittelt. Er war so nett, dass er mich an einem Sonntag empfangen hat und mir zwei bis drei Dosen als Vergleichsstücke übergeben hat. Es war eine größere Blechdose. Ich wusste, dass sich darin eine Bombe befand. Ein Mann hatte Tage vor der Explosion den Laden der iranischen Familie besucht und gesagt, er könne nicht bezahlen, weil er sein Portemonnaie vergessen habe. An sich ein sehr glaubwürdiges Vorgehen, dass man etwas hinterlässt.

Verteidiger Heer Der Zeuge soll nur das bekunden, was er selbst gesehen hat. Er soll keine Einschätzungen zur Sache geben.

Götzl (zum Zeugen) Bitte gehen Sie auf meine Fragen ein. Was waren die Ermittlungen zu der Dose?

Anwältin Lunnebach Die Störung des Zeugen durch die Verteidigung finde ich nicht angemessen. Polizeibeamte dürfen selbstverständlich den Zusammenhang mitteilen. Die Verteidigung will offenbar nicht hören, was da geschehen ist.

Götzl Wenn sich die Gemüter so erhitzen, dann mache ich eine Pause. Also weiter jetzt. Können Sie uns die Dosen beschreiben?

Ja, circa 40 Zentimeter breit, 20 Zentimeter tief, 16 Zentimeter hoch. Eine rote Stollendose aus Blech mit weißen Sternen drauf.

Götzl Wie hieß die Firma?

Kann mich nicht mehr erinnern.

Götzl In Ihrem Vermerk vom 20. 1. 2001 schrieben Sie: Original Kaiser Backform GmbH. Der Geschäftsführer Klaus  Brand habe angegeben, dass die Dosen aus China stammen, ein  Auslaufmodell, das bis Dezember 2001 vertrieben wurde. Insgesamt wurden 13.000 Dosen vertrieben.

Ja, wir haben dann viele Geschäfte in Köln aufgesucht.

Götzl Sie haben geschildert, dass Sie die Geschädigte im Krankenhaus aufgesucht haben. In welcher Verfassung war sie?

Das Opfer lag in der Schwerst-Verbrennungs-Klinik. Die Eltern befanden sich auch dort. Ich wurde beauftragt, Lichtbilder von dem Opfer zu bekommen für die Beweisführung. Ich war an der Außenschleuse der Klinik, das Opfer lag auf einem Bett, war fast völlig entkleidet, weil die Haut sich regenerieren musste. Das Opfer war verbrannt, aufgedunsen, hatte blutende Verletzungen im Gesicht, an den Unterarmen.

Götzl War das Opfer ansprechbar?

Nein. Wir wollten mit dem Opfer sprechen, aber es war definitiv nicht ansprechbar. Es sah aus wie ein Stück Grillfleisch, ein Bild des Grauens, es gibt keine passenden Worte. Ich habe in meiner Laufbahn als Polizist wirklich viel Blut, viel Leichen, viel Elend gesehen, dieses Opfer war für mich an der Spitzenposition.

(Götzl weist den Zeugen zurecht, als der sich auf eine Frage nicht an ein 13 Jahre zurückliegendes Ermittlungsdetail erinnern kann.)

Anwältin Lunnebach Ich habe das Gefühl, dass Sie die Ungeduld der Verteidigung übernommen  haben.

Götzl Das ist nicht der Fall, bitte fragen Sie weiter.

Lunnebach Haben Sie Anwohner des Lebensmittelgeschäfts befragt?

Wir sind von Haus zu Haus gegangen. Wir sind ganze Häuser abgegangen.

Kriminaloberkommissarin Elke van O., 47, aus Köln

 

Götzl Es geht uns um den Zustand der Verletzten.

Van O. Ich war am 21. Februar im  Klinikum. Der Arzt hat uns gesagt, dass sie noch nicht vernehmungsfähig ist, sie steht unter starken Schmerzmitteln, ist psychisch angeschlagen, bekommt Weinkrämpfe, sie wird nicht mehr künstlich beatmet. Im März haben wir sie dann vernommen. Bei ihr zuhause. Da hatte sie Narben im  Gesicht und einen etwas  starren Blick und ihre Hände zitterten. Sie fühle sich aber den Umständen entsprechend ganz gut und könnte eine Aussage machen, sagte sie. Sie hat klar gesprochen und auch spontan geantwortet. Die Haare waren nachgewachsen, sie trug eine Kurzhaarfrisur. Als wir gefragt haben, wie sie sich die Tat erklären kann, da hat sie angefangen zu weinen.

Lunnebach Wie war Ihre Rolle im Verfahren?

Van O. Ich war mit den Ermittlungen betraut und dann mit der Aktenführung.

Lunnebach Sie waren auch für die Spurenakten zuständig?

Verteidiger Heer Es ist keine Frage von Frau Lunnebach zulässig.

Lunnebach Das ist doch Quatsch, mir fällt da kein juristischer Begriff dazu ein.

(Heer interveniert erneut.)

Lunnebach Wir wollen von der Zeugin was hören und nicht von Ihnen.  Ich halte mich aber nicht an albernen Formalitäten auf. Dass die Verteidigung das beanstandet, hat nichts mit der Verteidigung zu tun, sondern ist die Absicht zu stören.

(Wohllebens Verteidiger Klemke meldet sich und will dazwischen gehen.)

Götzl Wenn Sie auf den Formalitäten herumreiten, dann müssen Sie sich auch an die Formalitäten halten, Herr Klemke. (Er gibt ihm nicht das Wort.)

Lunnebach Haben Sie den Gedanken verfolgt, es könnte sich um einen ausländerfeindlichen Anschlag handeln?

Van O. Es gab damals keine Hinweise darauf. Ich dachte in erster Linie daran, die Täter  zu ermitteln. Das war das höchstrangige Ziel. Aus welcher Richtung der Täter kommt, war für mich zweitrangig.

Es tritt auf die Zeugin M. M., 32, Chirurgin aus Köln.

 (Ihr Name wurde auf ihren Wunsch hin abgekürzt.)

Götzl Es geht um den 19. Januar 2001. Was können Sie uns berichten? Machen Sie ganz in Ruhe, nehmen Sie sich Zeit.

Der Weihnachtskorb mit der Geschenkdose war in der Weihnachtszeit bei uns abgegeben worden. Am 19.1.2001 war ich zufällig in unserem Laden, die Geschenkdose lag hinten im Büroraum, ich war neugierig, was drin ist. Ich habe die Dose leicht aufgemacht und eine blaue Campinggasflasche gesehen. Ich habe den Deckel wieder zugemacht und dachte, das ist ein komisches Geschenk. Dann habe ich mich gebückt, um etwas zu suchen. In dem Moment ist die Bombe explodiert. Es war ein lauter Knall, ein helles Licht, dann war alles dunkel. Ich hatte Schmerzen und konnte nichts mehr sehen. Ich konnte auch erst mal nicht atmen, nicht schreien, nicht reden. Meine Eltern haben mich nach draußen getragen. Dann wurde ein Rettungswagen alarmiert.

Götzl Ab wann glauben Sie, dass die Dose in dem Laden des Vaters gelegen ist?

Als der Geschenkkorb abgegeben worden ist. Das muss Mitte Dezember gewesen sein. Man kann sagen, dass diese Bombe einen Monat in diesem Raum stand.

Götzl Wie viel Zeit ist vergangen zwischen Öffnen und Explosion?

Nur ein paar Sekunden.

Götzl Wer war zugegen?

An dem Morgen meine Eltern und mein Zwillingsbruder und die jüngere Schwester. Mein älterer Bruder war schon gegangen, Vater stand im Außenbereich bei den Obstkisten. Um 7 Uhr haben wir noch schnell mitgeholfen, später wären da sonst 10, 15 Schüler im Laden gewesen.

Götzl Sie sind im Krankenhaus ins Koma versetzt worden. Wie war es danach? Wir müssen auch auf Ihre Verletzungen eingehen. Sie sind ja selbst Ärztin  und können uns das beschreiben.

Schon nach der Explosion hatte ich wahrgenommen, dass meine Augen sozusagen zugeschmolzen waren. Ich habe sie einfach nicht mehr aufgekriegt. Ich habe mitbekommen, dass Haare und Gesicht verbrannt waren. Ich wurde, glaube ich, eineinhalb Monate im Koma gehalten, auch wegen einer Lungenentzündung. Dann wurde ich schrittweise aufgeweckt. Einen Spiegel habe ich erst mal nicht bekommen. Ein paar Wochen später habe ich mein Gesicht zum ersten Mal gesehen, als ich allein auf die Toilette gegangen bin. Da bin ich einfach nur erschrocken: Ich hatte keine Haare mehr und Schnittwunden im ganzen Gesicht. Das war das Schlimmste. Außerdem waren beide Trommelfelle zerfetzt, so dass insgesamt vier Operationen nötig wurden. Dann hatte ich noch Narbenkorrekturen, das Schwarzpulver war im ganzen Gesicht verteilt. Man nennt das Schmutztätowierungen, ich hatte deswegen 20, 30 sehr schmerzhafte Lasersitzungen. Die Schmutztätowierungen sind noch sichtbar, wenn ich abgeschminkt bin. Die Narben konnten nie ganz entfernt werden, womit ich leben muss und kann.

Götzl Sie sagten, Sie standen kurz vor dem Abitur. Wie ging es nach Ihrem Krankenhausaufenthalt weiter?

Entlassen wurde ich Mitte März, entgegen ärztlichem Rat, auf eigene Verantwortung. Durch den Entzug der Schmerzmittel kam es zu Entzugserscheinungen. Die Anfangszeit war schwierig, ich konnte nicht allein essen, mich nicht allein waschen, nicht länger als 150 Meter laufen. Ich hab das Haus nicht verlassen, Freunde kamen zu mir, ich brauchte Monate, bis ich mich in der Öffentlichkeit zeigen konnte. Ich hatte sehr, sehr nette Lehrer, die mir angeboten haben, mein Abitur noch in dem Jahr  im November nachzuholen. So fing direkt die Vorbereitung für das Abitur an, worüber ich auch froh war. Irgendwann musste es für mich weitergehen: Ich habe Chemie und Physik studiert. Ich hab mich dann noch entschlossen, zusätzlich Medizin zu studieren, und habe Köln verlassen, um Abstand zu gewinnen zu allem.

Götzl Was ist für Sie an Folgen zum heutigen Zeitpunkt geblieben?

M. Ich habe noch immer Narben im Gesicht, Holzsplitter sind in den Kiefer eingedrungen, sie konnten nicht vollständig raus operiert werden. Mein Hörvermögen ist reduziert. Ich habe Tinnitus, ein leichtes Rauschen im Ohr. Damit muss ich leben, damit kann ich leben, das habe ich integriert in mein Leben. Die Verletzungen im Gesicht sind sichtbar, dann wird man gefragt: Was ist mit Dir passiert? Und dann steht man da und weiß nicht, was man darauf antworten soll.

Götzl Waren Sie in psychologischer Behandlung?

Ich hatte das Glück, einen starken Familienrückhalt zu haben und Freunde, die hinter mir stehen. Auch die Lehrer haben mir geholfen, mein Leben fortzuführen.

Götzl Haben Sie Überlegungen damals angestellt, wer verantwortlich sein könnte?

Was ich dann mitbekommen habe, war, dass die Polizei einen rechtsradikalen Hintergrund ausgeschlossen hat. Ein Anschlag von der iranischen Seite, dem Geheimdienst – das konnte auch nicht sein. Es hieß, wir haben keine Hinweise mehr und gehen davon aus, dass es keinen persönlichen Bezug gibt und irgendein Einzeltäter verantwortlich war. Ich muss sagen, wir konnten das damals ganz gut abschließen. Bis dann das Bekennervideo erschienen ist, das die Angeklagte verschickt hat. Da stand ich unter Schock. Die Kripobeamten warnten uns nach dem Video nur vor der Presse. Sie sagten uns nichts zu den laufenden Ermittlungen. Ich habe gefragt, ob es Gefahr für lebende Zeugen gibt. Da haben sie gesagt, es gebe keine Hinweise dazu. Das heißt aber nicht, dass es keine Gefahr gibt. Dann haben wir eine Anwältin eingeschaltet, die meisten Informationen haben wir uns über die Medien zusammengesucht. Es ist ja immer noch nicht klar: Gibt es zusätzliche Helfer, die vielleicht noch frei herumlaufen? Und morgen bei uns vor der Tür stehen? Keiner wird uns das garantieren können. Mit diesem Gedanken zu leben, ist für mich und meine Eltern nicht einfach. (Denkt  kurz nach.)   Gestern war bei mir die Garagentür offen. Ich hab mich sofort gefragt: Wer war das? Ich hab das Auto abgesucht, mich gebückt, ob da irgendwo eine Bombe platziert ist.

Götzl Können Sie etwas über die Folgen für die Eltern sagen?

Der Laden war zerstört. Mein Vater hat versucht, ihn wieder aufzubauen. Aber für meine Mutter war es nicht mehr möglich, den Laden zu betreten. Wir mussten dann verkaufen. Ich glaub, den akuten Schaden hätte man noch kompensieren können. Aber wenn die Einnahmen wegfallen, steht man vor dem Nichts.

Götzl Wie waren die Konsequenzen für Ihre Geschwister?

Es war schwer für sie, ihre Schwester so verletzt zu sehen. Auch dieses Wissen jetzt: Es gibt Menschen, die dich wegen deiner Herkunft umbringen wollen. Wir sind hier aufgewachsen und haben deutsche Freunde, akademische Abschlüsse – und am Ende sieht man im Video nur: „Jetzt wisst ihr, wie wichtig uns der Erhalt der deutschen Nation ist.“ Das ist traurig für mich, traurig für meine Familie.

Anwalt Daimagüler Haben Sie je erwogen, Deutschland zu verlassen?

Wenn du mitbekommst, du wirst wegen deiner Herkunft so angegriffen, dann ist der erste Gedanke: Was soll ich denn noch hier? Ich hab mir so viel Mühe gegeben, ich bin ein Muster an Integration. Aber das war ja die Absicht dieser Leute. Im Nachhinein habe ich deshalb gedacht: Nein, jetzt erst recht! So leicht lasse ich mich nicht aus Deutschland rausjagen. (Klatschen auf der Zuschauertribüne.)

Lunnebach In seinem Bekennervideo schreibt der NSU, Frau M. wisse jetzt, wie ernst dem NSU der Erhalt der deutschen Nation sei. Ich kann nur sagen: Es wäre gut, wenn hier in Deutschland mehr Leute leben würden wie Frau M.

Der Deutsche Dschihad. Islamistische Terroristen planen den Anschlag. Lange redeten wir uns ein, Deutschland sei lediglich Rückzugsraum für islamistische Terroristen. Doch Deutschland ist Anschlagsziel.

erstes kapitel

Press Section, U.S. Embassy Berlin, April 20, 2007 //  “U.S. diplomatic and consular facilities in Germany are increasing their security posture. We are taking these steps in response to a heightened threat situation. The U.S. Embassy encourages Americans in Germany to increase their vigilance and take appropriate steps to bolster their own personal security.”  (Die diplomatischen und konsularischen Einrichtungen der Vereinigten Staaten in Deutschland verstärken ihre Sicherheitsmaßnahmen. Wir unternehmen diese Schritte als Reaktion auf eine erhöhte Bedrohungslage. Die US-Botschaft empfiehlt Amerikanern in Deutschland, ihre Wachsamkeit zu verstärken und angemessene Schritte zur Erhöhung ihrer persönlichen Sicherheit zu unternehmen.)  Am 20. April 2007 gibt die amerikanische Botschaft in Berlin eine ungewöhnliche Erklärung heraus. Sie warnt ihre Staatsbürger, auf deutschem Boden besonders vorsichtig zu sein. So etwas machen die Amerikaner öfter – in Somalia, Marokko, dem Libanon. Aber in Deutschland? Bei einem ihrer engsten Verbündeten? Die Deutschen reagieren auf die Warnung der US-Botschaft mit einer Mischung aus mitleidiger Nachsicht und freundlichem Spott. Wer wollte es den Amerikanern verdenken, dass sie übervorsichtig sind, angesichts immer neuer Attentate auf ihre Truppen im Irak? Aber jetzt übertreiben die Herrschaften von der Botschaft doch ein wenig. Die Warnung fällt, so frotzeln manche, in jene Alarm-Kategorie, die reisende Amerikaner auch vor deutschem Trinkwasser warnt und vor dem Besuch auf der Hamburger Reeperbahn. Also: nicht wirklich brandgefährlich.  Die meisten Deutschen, die von der Warnung hören, beschleicht das Gefühl, dass die Jungs in den USA nun wirklich hysterisch geworden sind. Das Gefühl, dass die Amerikaner Recht haben könnten, beschleicht sie nicht. An jenem 20. April aber wissen die amerikanischen Sicherheitsbehörden, dass drei junge Männer in Deutschland ein halbes Dutzend Kanister mit der Chemikalie Wasserstoffperoxid horten. Sie wissen, dass diese Männer fanatische Islamisten sind und dass sie vor ein paar Monaten in einem Ausbildungslager der al-Qaida in Pakistan waren. Dort haben sie gelernt, wie man aus dieser an sich harmlosen Chemikalie hochexplosiven Sprengstoff herstellt. Sie wissen: Die Männer haben bereits amerikanische Kasernen im Visier. Und sie wissen auch: Die deutschen Behörden haben Mühe, die drei unter ständiger Beobachtung zu halten.  All das wissen die deutschen Bürger nicht. Sie gehen davon aus, dass in Deutschland alles in Ordnung ist. Zwei Monate vergehen. An die Warnung der Amerikaner denkt schon lange keiner mehr.

Sendboten des Todes

Es ist ein sehr staubiger Ort in den Hochtälern des Hindukusch, an dem sich die Rekruten des Heiligen Krieges versammelt haben. Ihre Gesichter sind schwarz verhüllt, nur für die Augen haben sie Sehschlitze gelassen. Um die Stirn haben sie weiße Bänder mit arabischen Schriftzeichen geschlungen. Einer der Vermummten tritt vor, stolz steht er da. Er werde nach Großbritannien gehen, sagt er, als Selbstmordattentäter. Da hinten, sagt er und deutet auf mehrere ansehnliche Gruppen von Kämpfern, das seien die Todesschwadronen für Kanada, daneben die Märtyrer für Deutschland. Wie menschliche Munition stehen sie da im Sand, bereit, sich in die große Kriegsmaschine gegen die Ungläubigen stecken zu lassen.

Die vermummten Kämpfer, die gen Westen ziehen sollen, werden in einem Video vorgestellt, das dem amerikanischen Sender ABC zugespielt und am 18. Juni 2007 gesendet wird. Es ist dieses Video, nach dessen Ausstrahlung auch die Bundesregierung die erste offizielle Terrorwarnung für Deutschland ausspricht. Das Land sei „voll ins Zielspektrum des islamistischen Terrorismus gerückt”, wie Staatssekretär August Hanning das ausdrückt. Der Mann war früher Präsident des Bundesnachrichtendienstes und ist nun in Sachen Sicherheit die rechte Hand Wolfgang Schäubles, des Bundesinnenministers. Hanning spricht von einem „Hintergrundrauschen“, das sich verdichtet habe – es ist Bewegung in der Szene der potenziellen Terroristen, die von den Geheimdiensten weltweit beobachtet werden. Man weiß nicht genau, was geplant ist, aber Hinweise, dass etwas geplant sein könnte, häufen sich. Das ist es, was Geheimdienstler gerne „Hintergrundrauschen“ nennen. Grund für Misstrauen und verschärfte Wachsamkeit.

Ein Propaganda-Video der Taliban, und schon rasten alle aus – es hagelt spöttische Bemerkungen. Zynische Eigenwerbung von Islamisten sei das, effektvoll, aber nicht ernst zu nehmen. Todesschwadronen gen Deutschland? Doch wohl eher eine coole Marketing-Idee der Terroristen.  Dummerweise ist es nicht nur eine Idee. Und die Todesschwadronen müssen auch nicht erst losgeschickt werden – sie sind schon da, mitten in Deutschland: Sie sitzen in Neunkirchen im Saarland, im baden-württembergischen Ulm und im Städtchen Langen bei Frankfurt. Die Todesschwadronen für Deutschland kommen aus Deutschland. Sie sind Einheimische. Sie fahren im gleichen Bus, besuchen die gleiche Schule, gehen in die gleichen Internetcafés wie diejenigen, die sie töten wollen: zwei Söhne aus gutem, bürgerlichen Hause und ein hier aufgewachsener junger Türke.  Daniel S. aus Neunkirchen im Saarland hat beste Noten, als er in der 12. Klasse das Gymnasium verlässt. Sein Vater ist pensionierter Bankangestellter. Daniel ist neunzehn, als er zum Islam konvertiert, kurz darauf geht er nach Ägypten, um Arabisch zu lernen, danach nach Pakistan, um sich auch praktisch zum Heiligen Krieger ausbilden zu lassen. Im Februar 2007 kommt er zurück, jetzt ist er einundzwanzig Jahre alt. Angeblich will er sein Abitur, die Reifeprüfung, nachholen. Vermutlich geht es ihm um eine andere Reifeprüfung – die im Heiligen Krieg.  Fritz G., 28, sein Freund aus Ulm, kommt ebenfalls aus gesicherten Verhältnissen: der Vater Solaranlagenbauer, die Mutter Ärztin. Mit achtzehn Jahren ist der Junge zum Islam konvertiert, nun studiert er Wirtschaftsingenieurswissenschaften, vor kurzem hat er geheiratet.  Es sind zwei junge Männer, denen die Welt offensteht, die eine Zukunft haben. Doch sie sehen ihre Zukunft im Heiligen Krieg, vielleicht im Märtyrertod.  Auch bei ihrem Freund Adem Y. hat sich das Leben eigentlich gut angelassen. Sein Vater ist Bauarbeiter, die Mutter Hausfrau. Seit Jahren wohnen sie in Langen bei Frankfurt. Adem hat fünf Jahre lang bei der Bahn gearbeitet, erst als Fahrkartenkontrolleur, dann im Sicherheitsbereich am Frankfurter Flughafen. 2002 hat er gekündigt. Jetzt, er ist achtundzwanzig Jahre alt, betreibt er ein Reisebüro sehr spezieller Art: Die Fahnder verdächtigen ihn, dass er Menschen in den Heiligen Krieg schickt. Immer wieder verschwinden aus seinem Bekanntenkreis junge Männer. Sie melden sich aus Pakistan wieder, aus dem Irak, aus Saudi-Arabien.  Deutschland sieht sich im Sommer 2007 einer neuen, bisher nur erahnten Gefahr ausgesetzt: der Gefahr, dass „homegrown terrorists“ hier zuschlagen könnten. Menschen, die hier aufgewachsen sind, Terroristen aus der Mitte der Gesellschaft. Eine sehr reale Gefahr.  „Schütteln“ – bis der Feind abfällt Es ist einer jener Tage, die Polizei und Geheimdienste an den Rand des Nervenzusammenbruchs bringen. Ein Beamter des saarländischen Verfassungsschutzes folgt an diesem Tag Daniel S.. Der junge Mann mit den langen, dunklen Haaren und dem Fünf-Tage-Bart sieht eher aus wie ein männliches Model von Dolce & Gabbana als wie ein strenger Moslem. Daniel S. steigt in den Zug nach Stuttgart. Auch der Beamte steigt ein. Der Bahnsteig ist leer, die Türen gehen zu. Da springt Daniel im letzten Augenblick aus dem anfahrenden Zug, läuft über die Gleise und steigt in einen anderen Zug. Der Mann vom Verfassungsschutz kann ihn nicht verfolgen, ohne auf dem leeren Bahnsteig entdeckt zu werden.  Wenn Daniel S. und Fritz G. sich treffen, überprüfen sie professionell, ob ihre Wohnungen observiert werden. Sie machen Kontrollgänge rund um den Block, um verdächtige Autos aufzuspüren, mit Fahndern, die sie möglicherweise beobachten. Einer der beiden geht voraus, der andere folgt in einigem Abstand, damit ihnen keine Bewegung entgeht. Falls irgendwo ein Polizist herumsteht. Wenn sie im Auto sitzen und sichergehen wollen, nicht verfolgt zu werden, beschleunigen sie mitten in der Stadt auf Tempo 140 und brausen über die Ausfallstraßen, rote Ampeln ignorieren sie.  Einmal rast ihr Freund Attila S. auf eine gelbe Ampel zu. Er gibt Gas, im letzten Moment bremst er doch noch ab. Auch das Auto hinter ihm bremst, ein Wagen des baden-württembergischen Verfassungsschutzes. Da stehen sie, dicht hintereinander, der Wagen von Attila S. und der Wagen des Verfassungsschützers, vor der roten Ampel. Da steigt Attila S. aus seinem Auto, seelenruhig geht er auf den Verfolger zu, er zückt ein Messer – und sticht auf die Reifen ein. Dann fährt Attila S. einfach weiter.  Es sind Tage wie diese, die die deutschen Sicherheitsexperten zweifeln lassen, ob sie an den Richtigen dran sind. Tage, an denen sie glauben, dass sie hier nur einem gewaltigen Ablenkungsmanöver aufsitzen und die eigentlichen Täter ganz woanders und ganz ungestört an ihren Bomben bauen. Dass das hier nicht das Hit-Team ist, das sie fürchten. Hit-Team – so heißen weltweit die kleinen Gruppen von Terroristen, die einfliegen, nur um zuzuschlagen. Die Fahnder zweifeln. Vielleicht haben sie es hier mit professionellen Nebelwerfern zu tun, die ein anderes Team tarnen sollen. Ein Terror-Team, das sie bisher nicht entdeckt haben.  Wenn sie nur Nebel werfen, dann macht das Trio um Fritz G. das zumindest sehr effektvoll. Sie beherrschen die Kunststücke virtuos. „Die kannten alle Schüttelmaßnahmen, die man nur kennen kann“, sagt ein Ermittler. „Schütteln“ – so nennen Geheimdienstler die Methoden, lästigen Verfolgern zu entwischen. „Das war professionelles nachrichtendienstliches Wissen. Die waren hervorragend darauf vorbereitet, was sie erwartet, wenn sie sich hier bewegen.“ Die Verfolger erinnert das an klassische Spionageabwehr, was sie von dem Trio und deren Freunden geboten bekommen.   Die Pakistan-Connection Die drei Männer hatten auch gezielt geübt: in einem Terrorausbildungslager in Pakistan. Dort waren sie alle drei, monatelang, im Jahr 2006. Alle Verantwortlichen wissen: Die Terrororganisation al-Qaida ist dort, in Pakistan, wieder operationsfähig. Sie hat die heftigen Bombenangriffe überlebt, mit denen die Amerikaner sie im Winter 2001/2002 aus den Bergen Afghanistans vertreiben wollten. Das Terror-Netzwerk hat überall in der Welt wieder funktionierende Strukturen aufgebaut. Die Boten reisen wieder über Land. Die Ausbildungslager funktionieren wieder – nicht mehr in Afghanistan wie früher, heute wird in Indonesien trainiert oder in den unüberschaubaren Stammesgebieten Pakistans. Dort machen die Geheimdienste eine rasante Destabilisierung der staatlichen Ordnung aus, die es den Terrorgruppen ermöglicht, nahezu ungestört zu operieren. Dort hatten auch Fritz G., Daniel S. und Adem Y. trainiert. Und sie waren in ihre Heimat zurückgekehrt, um das antrainierte Wissen anzuwenden.  Die Behörden beobachten, wie die drei immer vorsichtiger, immer konspirativer vorgehen. Fritz G. ruft nicht einfach seine Freunde an. Er fährt in ein Internetcafé nach Ulm, um Kontakt aufzunehmen. Dann fährt er weiter nach Stuttgart, in ein anderes Internetcafé. Allmählich kennen die Fahnder jedes Internetcafé im Umkreis von hundert Kilometern. Doch lückenlos überwachen können sie sie nicht. Verlässt Fritz G. das Haus, läuft eine Maschinerie an, die ganze Hundertschaften beschäftigt: Polizisten rücken zu jedem Call-Shop in der Umgebung aus, Observationsteams begleiten Fritz G. in jedes Internetcafé. Wenn Fritz G. unterwegs ist, sollte möglichst kein Banküberfall geschehen: Es wären kaum noch Polizisten für einen solchen Sondereinsatz verfügbar.  Doch was der Verdächtige im Internetcafé tut, macht die Fahnder ratlos. Sie können nicht jedes Internetcafé überwachen, nicht jedes Telefon im Callshop abhören. Über hundert verschiedene Cafés fährt Fritz G. an. Und auch die Abhörerlaubnis, die sie für Fritz G.’ neun Mobiltelefone haben, hilft nicht viel. Der Mann spricht kaum jemals über Telefon mit seinen Freunden, die Fahnder hören zwar mit, aber sie erfahren nichts. Lange Zeit können sie sich nicht erklären, wie die Männer überhaupt miteinander in Kontakt stehen.    Die Amerikaner fangen E-Mails ab, E-Mails von und nach Pakistan. Ihre Spur führt nach Deutschland. Die Drahtzieher einer bisher unbekannten Gruppe namens „Islamic Dschihad Union“ kontaktieren da ihre Gefolgsleute in Deutschland. Die Amerikaner alarmieren die deutschen Dienste. Doch die deutsche Polizei findet nur unbescholtene Bürger, die nie in ihrem Leben in Pakistan gewesen sind. Erst allmählich erkennen die Behörden: Da sind Leute in die offenen, ungeschützten Wireless-Lan-Netze normaler Bürger eingedrungen und haben einfach deren IP-Adressen benutzt, jene individuellen Nummern, die für jeden Internetzugang nötig sind. Eine gute Tarnung. Nach und nach gelingt es den Fahndern, den Namens-Schnipseln, die ihnen die Amerikaner liefern, die Menschen zuzuordnen, die sie wirklich suchen.Und die Deutschen entdecken nun ein immer größeres Geflecht: In den vergangenen Monaten wurden mehrere Deutsche in Pakistan festgenommen, die verdächtigt werden, in Terrorausbildungslagern gewesen zu sein. Tolga D. aus Ulm ist darunter, ein alter Freund von Fritz G. aus gemeinsamen Jugendtagen. Ein Mann, der die Fahnder schon häufiger beschäftigt hat. Wie weit reicht das Wurzelgeflecht der Gruppe? Hat es sich weiter verzweigt, als die Ermittler erkannt haben?  Mindestens ein Dutzend junger Männer aus Deutschland hielt sich nach Erkenntnissen der Geheimdienste im Jahr 2007 in jenen Gegenden Pakistans auf, die nicht in erster Linie für ihre touristischen Ziele bekannt sind. „Wir haben allen Anlass zu glauben, dass es sich bei diesen Leuten nicht nur um fromme Pilger handelt, die dort eine Koranschule besuchen wollten“, bestätigt das Bundesinnenministerium. Sondern um Männer, die sich weiterbilden wollen – im Heiligen Krieg. Es sind Männer, die der deutschen Polizei zum Teil schon lange vor ihrer Reise aufgefallen sind – als radikale Islamisten, die den Dschihad mal mehr, mal weniger offen unterstützten. Einige von ihnen hat die Polizei als „Gefährder“ eingestuft. Das heißt: Sie hält die Leute für fähig und bereit, jederzeit einen Anschlag zu begehen. Nur kann sie ihnen das nicht gerichtsfest beweisen. Rund 300 solcher Gefährder gibt es derzeit in Deutschland. Eigentlich müssten sie Tag und Nacht beobachtet werden. Doch das ist nicht zu machen. Für eine lückenlose Observation von der Wohnung bis zum Arbeitsplatz, von der Moschee bis zum Internetcafé sind für jeden Terrorverdächtigen 32 Polizeibeamte nötig – jeden Tag. „Wir stoßen da an unsere Grenzen“, geben Polizeiführer inoffiziell zu.  Die unbewachten Gefährder Also bleiben viele Gefährder weitgehend unbehelligt. Es sind Leute wie Ahmed X.[1] aus einem kleinen Ort am Rhein. Der Mann mit dem schlohweißen Haar lebt dort seit fast achtzehn Jahren mit seiner deutschen Frau und den gemeinsamen Kindern. Freundlich, fast väterlich sieht der 46-Jährige aus mit seinem mächtigen weißen Bart. Seit fünfzehn Jahren schon besitzt der geborene Pakistani die deutsche Staatsbürgerschaft. Ein Musterbürger, Familienvater. Auch beruflich war er lange erfolgreich aktiv, als technischer Zeichner. Ahmed X. hatte sogar Zutritt zum Institut für Transurane im Umfeld des Forschungsreaktors Karlsruhe, der besonders stark gesichert ist. Seit Oktober 2001 hat er keinen Zutritt mehr. Damals wurde Ahmed X. als Gefährder eingestuft, die Bundesanwaltschaft ermittelte gegen ihn wegen des Verdachts der Bildung einer terroristischen Vereinigung. Das Verfahren wurde eingestellt.  Als der Familienvater im Juni 2007 von Pakistan nach Deutschland zurückkehren wollte, wurde er noch auf dem Flughafen in Lahore festgenommen. Der pakistanische Geheimdienst warf ihm vor, er habe sich in einem der Terrorlager zum Bombenleger ausbilden lassen. Dagegen erklärte Ahmed X., er sei unschuldig, er habe in Pakistan nur wertvolle Edelsteine kaufen wollen. Der oberste Gerichtshof Pakistans ließ ihn ziehen. Im September ist er in seine deutsche Heimat zurückgekehrt.  Auch Tolga D. aus Neu-Ulm ist wieder da. Der neunundzwanzig Jahre alte Türke, der in Ulm aufgewachsen ist, wurde im Juni 2007 in Pakistan festgenommen, als er illegal die Grenze zwischen Iran und Pakistan überqueren wollte. Er hatte mehrere Tausend Euro dabei, dazu ein leistungsstarkes Satellitentelefon. Auch ihm warfen die pakistanischen Behörden vor, eine Terrorausbildung absolviert zu haben. Bei seiner Rückkehr nach Deutschland wurde Tolga sofort festgenommen und unter dem Vorwurf, Deutsche für einen fremden Militärdienst geworben zu haben, in Untersuchungshaft genommen. Die deutschen Ermittler zweifeln nicht daran: Tolga D. gilt als bekannte Größe in der Islamisten-Szene von Ulm. Er hatte engen Kontakt zur Familie des Hasspredigers Dr. Yehia Yousif, dessen Sohn Omar sich in einem Terrorausbildungslager feinsäuberlich Bauanleitungen für Sprengstoffbomben ins Tagebuch kritzelte. Tolga D. ist auch ein Kumpel von Fritz G. Und Fritz G. ist ein alter Bekannter von Omar Yousif, dem Jungen aus dem Terrorlager. Man kennt sich. Man schätzt sich. Vier der Rückkehrer aus Pakistan hat allein der bayerische Verfassungsschutz im Visier. Die Sicherheitskräfte besuchten die Männer zuhause und fragten nach ihren Reisen. Sie hätten sich nur in ihrer Religion unterweisen lassen, sagten einige zunächst. Im weiteren Gespräch gaben sie zu, dass in der religiösen Unterweisung auch eine militärische Ausbildung inbegriffen war. Aber, betonten die Rückkehrer, diese Ausbildung hätten sie nicht angestrebt. Sie hätten nur mitgemacht, weil sie sich nicht aus der Gemeinschaft ausschließen wollten.  Auf jeden Fall aber haben diese Männer das Töten gelernt. Niemand weiß, wie viele von ihnen in Deutschland leben, niemand weiß, wie viele sich in den Lagern Pakistans kennen gelernt haben, niemand weiß, ob sie hier zusammen weitermachen.  In dieser Situation, es ist Juli 2007, sagt der rheinland-pfälzische Innenminister Karl Peter Bruch: „Wir befürchten, dass die Welle von Selbstmordattentaten nach Deutschland schwappen kann.” Es hört sich übertrieben an. Man hört nicht wirklich hin, welche Ahnung soll so ein Innenminister aus Mainz auch schon vom globalen Terror haben? In Wirklichkeit beschreibt Bruch ziemlich genau, was gerade geschieht.   Flughäfen, Kasernen oder „Discos mit  amerikanischen Schlampen“? Es ist der 20. Juli 2007, ein Freitag. Fritz G. aus Ulm fährt nach Hannover, wieder einmal. Er tut das alle paar Wochen, regelmäßig. Sein Ziel: die CVH Chemie-Vertrieb GmbH & Co KG, ein Großhandel. Er holt dort jeweils ein, zwei Kanister der Chemikalie Wasserstoffperoxid. Das ist nicht verboten. Die geruchlose Flüssigkeit ist in blauen Kanistern zu je 60 Litern abgefüllt. Bis zu einer Konzentration von 50 Prozent fragt keiner, was man damit vorhat. Fritz kauft die Fässer mit einer Konzentration von 35 Prozent. Er fällt nicht auf. Wie auch? Ein freundlicher Deutscher, groß, schlank, dunkelblond. Wer sollte ihm misstrauen? Die Chemikalie brauchen viele: Friseure, Gebäudereiniger, Kosmetikfirmen. Wer fragt da schon nach? Auf der Fahrt zurück von Hannover steigt sein Freund Adem Y. zu ihm in den Wagen. Gemeinsam fahren sie in den Schwarzwald, um ihre Fässer zu verstecken. Es ist während dieser Fahrt, als die Fahnder es hören. Als sie hören, dass die beiden nun in die konkrete Phase eintreten. Diesmal entwischen ihnen die Männer nicht: Das Auto ist verwanzt. Obwohl sich die beiden eigens einen Mietwagen besorgt haben, um Beobachter abzuschütteln. Fritz G. und Adem Y. sprechen darüber, was sie mit dem Wasserstoffperoxid machen wollen. Autobomben wollen die Männer bauen, das ist klar. Und sie wollen Amerikaner treffen. Viele. Doch wo sollen sie die Bomben explodieren lassen? In Flughäfen? In amerikanischen Kasernen? In Hanau ist Fritz G. schon rund um die Kasernen gefahren, vor Monaten, am Silvesterabend 2006. Damals ist er auch den Amerikanern aufgefallen. Kasernen erscheinen den beiden Freunden nun zu stark gesichert. Lieber wollen sie ihre Autobomben anderswo zünden: vor Pubs, vor einem Supermarkt. In einem Supermarkt seien zu viele Frauen mit Kindern, wendet Fritz G. ein. Bei anderen Orten, anderen Frauen haben sie weniger Bedenken. Eine Disco finden sie dann als Ziel geeignet, eine „Disco mit amerikanischen Schlampen“.  Und sie haben sich auch ausgedacht, wie sie vorgehen wollen. Nachhaltig. Erst soll drinnen eine kleine Sprengladung hochgehen, damit die Menschen ins Freie flüchten. Dort erst soll dann die große Autobombe zünden – genau dann, wenn die Menschen sich vor die Tür gerettet haben. Es ist ein Szenario wie in Tel Aviv in Israel. Dort hatten vor ein paar Jahren palästinensische Terroristen einen Kindergeburtstag in einem McDonalds-Restaurant als Ziel gewählt. Drinnen ließen sie eine kleine Bombe hochgehen. Die Kinder flüchteten nach draußen. Draußen passierte zum Glück: nichts. Eigentlich hätte dort die große Bombe explodieren sollen. Erst als die israelische Polizei die Tat nachstellte, erkannte sie den teuflischen Plan. Er hat in Deutschland Nachahmer gefunden.  Im September 2007 bewahrheitet sich, was deutsche Sicherheitsbehörden schon seit einigen Jahren befürchten: dass es nicht nur „homegrown terrorists“ in Großbritannien, den Niederlanden und Kanada gibt, sondern auch in Deutschland. Dass nicht nur in London einheimische Selbstmordattentäter in die U-Bahn steigen, die bis zu diesem Zeitpunkt scheinbar integriert in Großbritannien gelebt haben. Sondern dass es solche Attentäter auch in Deutschland gibt: junge Menschen, die hier geboren und aufgewachsen sind und dennoch den Heiligen Krieg als Sinn ihres Lebens begreifen, ihn sogar auf deutschem Boden führen wollen. Die Rekruteure des Terrors sprechen immer öfter junge Menschen in Europa an. Und die Behörden befürchten, dass sie auch schon viele gefunden haben – wie Fritz G., wie Daniel S., wie Adem Y. Und dass diese Menschen zum Äußersten bereit sein könnten – sich als Selbstmordattentäter in die Luft zu sprengen. Dass al-Qaida diese Strategie, die im Irak und in Afghanistan so wirkungsvoll ist, nun in die Welt trägt – ins Herz des Feindes. Es wäre ungewöhnlich, wenn Fritz und Daniel und Adem die Einzigen wären, die sich verlocken ließen.

„Die Terrororganisation al-Qaida versucht mittlerweile bewusst, junge Muslime im Westen zu erreichen, vor allem aus der zweiten und dritten Generation“, sagt Verfassungsschutzchef Heinz Fromm. Die Terrororganisation nutzt die kulturelle Zerrissenheit, auch die Vereinsamung dieser Menschen aus. Sie gibt ihnen einen neuen Sinn, ein neues Leben, eine neue Familie – und die neuen Gläubigen wenden sich gegen ihre Eltern, Brüder, Schwestern, Freunde. Sie fühlen sich nur noch ihrem neuen Leben verpflichtet.

Die Rückkehr der „Garagen-Dschihadisten“ Die Terroristen des globalen Dschihad, des inzwischen weltweiten „Heiligen Krieges“ haben neue Ziele: Nicht mehr nur Israel und die USA sind der Feind, der Westen insgesamt ist der Gegner. Man will die Ungläubigen treffen, wo man sie treffen kann: mal mit über Jahre geplanten, ausgefeilten Großaktionen wie dem Anschlag auf das World Trade Center in New York, mal mit spontanen Anschlägen von „Garagen-Dschihadisten“: billig und primitiv, dennoch tödlich. Die Lager von Pakistan sind zur Werkstatt des Heiligen Krieges geworden. Hier werden die Lehrlinge ausgebildet. In einem eigenen Handbuch wird in Frage- und Antwortform erklärt, wie der Heilige Krieger praktisch vorgeht:Wie sprengen wir mit Gas?Wir haben Sprengstoff, aber keine Zündkapsel – wie gehen wir vor? Wie koche ich Sprengmittel ein?Wie baue ich Zünder?Wie gewinne ich Gift aus toten Fischen?Wie verhalte ich mich bei Verhören?Es gibt sogar Hausaufgaben. Und Gesellenstücke. Fast hätten die Dschihadisten aus Pakistan einen Terroranschlag verübt, der ein zweites 9/11 hätte werden können. Britische Polizisten nahmen im Sommer 2006 bei einer Razzia 24 Verdächtige fest, die einen schier unglaublichen Plan verfolgten: Sie wollten in Getränkeflaschen flüssigen Sprengstoff an Bord von Passagierflugzeugen schmuggeln. Dort wollten sie die Komponenten zu tödlichen Bomben zusammenbauen und damit gleichzeitig bis zu zwölf Flugzeuge auf ihrem Weg über den Atlantik sprengen – in drei Wellen. „Der Verlust an Menschenleben wäre unvorstellbar gewesen“, erklärte die britische Regierung. Und das Menetekel für die westliche Welt nicht auszumalen. Denn noch mehr als der Massenmord hätte der Anschlag auf die westliche Psyche gewirkt: Die Verbindung zwischen Europa und Amerika wäre unterbrochen gewesen, der Flugverkehr ausgesetzt worden, das Vertrauen in die Sicherheit der Reisewege abgrundtief erschüttert.  Die Idee zu dem Massenmord stammte aus pakistanischen Koranschulen. Dort wurden in den letzten Jahren die gefährlichsten Pläne geschmiedet.    Dass sich das Interesse von Terroristen nur auf britische Flughäfen beschränkt, ist nicht anzunehmen. Im Juli 2006, genau zu der Zeit, als die britischen Terroristen ihren Anschlag planten, bekamen deutsche Sicherheitsbehörden einen Hinweis, dass sechs in Deutschland lebende Araber einen Mitarbeiter des Frankfurter Flughafens angesprochen hatten. Immer wieder traten die Asylbewerber aus dem Irak, Kuwait, Libanon und Jordanien an den Mann heran, ob er ihnen nicht Zugang zum Sicherheitsbereich verschaffen könnte. Dieser ging zum Schein darauf ein – die sechs waren ausgerechnet an einen V-Mann des Verfassungsschutzes geraten. Der V-Mann verlangte Geld für sein Entgegenkommen und die sechs Männer versprachen zu zahlen. Sie wollten, dass er eine Tasche oder einen Koffer voller Sprengstoff in eine bestimmte Maschine schmuggelt – sie interessierten sich vor allem für Fluglinien aus Israel. Fünf Monate lang hörte die Polizei die sechs Männer ab – es gab Hinweise auf einen Hintermann, der Geld beschaffen sollte. Man fing an zu handeln. Doch es ging nichts weiter. Der Hintermann blieb unsichtbar, unhörbar. Am Ende versuchte die Polizei mit einer Hausdurchsuchung mehr Hinweise auf das Komplott zu erhalten – am 17. November 2006 schlug sie zu. Sie fand nichts. Keinen Hinweis auf Sprengstoff, keinen Hinweis auf Waffen. Dennoch hatten die sechs über Monate hinweg ihren Plan verfolgt. Nur aus Langeweile? „Ein Witz“, sagte einer von ihnen. Sie wurden wieder freigelassen.  Abschied von der Mutter Andere gehen zielstrebiger zur Sache. Fritz G. und seine Freunde haben ihre Hausaufgaben aus dem Terrorcamp gemacht. Sie wissen, wie man Sprengstoff einkocht. Sie wissen, woher sie Sprengzünder bekommen. In Stiefelabsätzen versteckt bringt sie ihnen ein 15-jähriger Teenager aus der Türkei über die Grenze. Sie haben sich alles besorgt, was sie brauchen. Sie haben sich auch überlegt, was passieren würde, wenn sie geschnappt werden: 25, vielleicht 30 Jahre Haft, überlegen sie. In Freudenstadt im Schwarzwald haben sie eine Garage angemietet – direkt gegenüber dem evangelischen Kindergarten. Dort stellen sie die blauen Fässer unter, die Fritz regelmäßig aus Hannover holt. Insgesamt sind 730 Kilogramm Wasserstoffperoxid zusammengekommen. „Die Sprengkraft entsprach 550 Kilogramm TNT“, sagt der Präsident des Bundeskriminalamtes Jörg Ziercke später. „Die Selbstmordattentäter in der U-Bahn von London hatten jeder nur drei bis fünf Kilogramm in ihren Rucksäcken.“ Das reichte, um mehr als 60 Menschen zu töten.  Ende Juli ist der Plan weit gediehen. Die BKA-Fahnder hören das Gespräch von Fritz und Adem im Auto mit, in dem sie über die Anschlagsziele sprechen, sie hören, dass ihr Freund Daniel S. sogar bereit sei, sich selbst zu opfern. Da wollen die Fahnder die Dinge nicht mehr so laufen lassen. Sie greifen zu einer kühnen List. Ein paar Tage später öffnen sie unbemerkt die Garage der Terrorverdächtigen im Schwarzwald, sie tauschen die Kanister mit dem 35-prozentigen Wasserstoffperoxid gegen gleiche Kanister mit nur dreiprozentigem Wasserstoffperoxid aus. Daraus lässt sich auch beim besten Willen keine Bombe mehr bauen. Die Polizisten verschwinden wieder, unbemerkt. Fritz und seine Freunde schöpfen keinen Verdacht. Sie machen unbeirrt weiter. Sie gehen nun sehr planmäßig vor. In Belgien kaufen sie drei gebrauchte Kleinlaster, so berichten die Fahnder. Die Laster sollen als Autobomben dienen, für jeden von ihnen einer. Am 17. August mieten sie im kleinen Dorf Oberschlehdorn im Sauerland eine Ferienwohnung an, weit weg von jeder Großstadt. Niemand denkt an Terroristen, wenn er in dieser 900-Einwohner-Gemeinde durch den Wald joggt. Dort wollen sie das Wasserstoffperoxid so stark einkochen und mit anderen Chemikalien versetzen, dass es explosiv wird.   Daniel S., der jüngste im Bunde, verabschiedet sich am 1. September von seiner Mutter. Er besucht sie an diesem Samstag und schenkt ihr einen Koran. Er hat eine Widmung hineingeschrieben: „Dieses Buch soll dir Trost spenden in schweren Zeiten. Der einzige Gott ist Allah.“ Er schenkt ihr auch alle Gewürze, die er aus Pakistan mitgebracht hat. Er verteilt seinen kleinen Hausrat. Beim Besuch ist Daniel, wie ihn seine Mutter kennt: Sie muss die Fotos ihrer Stieftöchter verhängen, weil Daniel keine fremden Frauen sehen will. Sie räumt den Alkohol weg. Dass es Daniels letzter Besuch werden sollte, ahnt sie nicht.  „Wir gehen davon aus, dass die drei bereit waren, als Selbstmordattentäter zu sterben“, sagt ein Ermittler. „Daniel S. ganz bestimmt – nur so ist der Abschied von seiner Mutter zu verstehen.“  Daniel S. nimmt auch Abschied von einem Freund. Er wohnt mit einem saarländischen Schüler zusammen, noch keine zwanzig Jahre alt, der erst im Januar zum Islam konvertiert ist – der sich aber im Zeitraffertempo radikalisiert hat.  Am Sonntag, dem 2. September, holen die Verschwörer das Wasserstoffperoxid aus der Garage im Schwarzwald, dann fahren sie ins Sauerland, in ihre Ferienwohnung. Kurz zuvor schickt Daniel S. seinen Mitbewohner weg – ins Ausland. Der Junge geht nach Frankreich, dann nach Ägypten. Die Ermittler sind nicht erleichtert, sie sehen darin eine neue Gefahr.    Am 4. September liegen 300 Polizisten in den Wäldern rund um Oberschlehdorf im Sauerland versteckt. Sie haben einen Ring um das Ferienhaus am Eichenweg gezogen. Es kann keiner mehr unbemerkt heraus. Sie müssen sich beeilen, nur Stunden vorher hat eine ganz normale Polizeistreife den Wagen von Fritz G. und seinen Freunden angehalten – sie waren mit aufgeblendeten Scheinwerfern über die Dorfstraßen gebraust. Als die Verkehrspolizisten im Fahndungscomputer nachsehen, blinkt der auf. Und einem Polizisten entfährt der Satz: „Die stehen ja auf der Liste des BKA.“ Das hören nicht nur die drei im Auto, sondern auch die Fahnder vom BKA, die über ihre Wanzen im Wagen mithören. Sie wissen: Sie haben jetzt nicht mehr viel Zeit. Sie haben Recht. Die drei fahren zu ihrer Ferienwohnung, sie diskutieren, was nun zu tun ist, ob sie flüchten, ob sie weitermachen sollen. Sie entschließen sich, weiterzumachen. So wie sie immer weitergemacht haben. Sie holen das Fass aus dem Auto, sie stellen die Chemikalien bereit. Das BKA hört mit – auch die Wohnung ist verwanzt.  Eine Stunde später rammt die Antiterrortruppe GSG 9 die Tür ein. Vermummte Polizisten stürmen das Haus. Ihnen schlägt ätzender Dampf entgegen: Die drei haben begonnen, ihren Sprengstoff zu kochen. Auch militärische Sprengzünder habe sie bereits besorgt, wie, das ist den Fahndern entgangen. Später erfahren sie: Ein 15-Jähriger hat sie in seinen Stiefelabsätzen von Istanbul im Bus nach Deutschland gebracht. Auch Platinen für die Bomben liegen da.  Fritz G. und Adem Y. lassen sich widerstandslos festnehmen. Der Jüngste, Daniel S., flüchtet. Er springt durch ein Badezimmerfenster, hechtet durch den Garten, will in den Wald. Dort rennt er auf einen Polizisten zu, der hier versteckt liegt. Daniel S. entreißt ihm die Dienstpistole, die beiden kämpfen, ein Schuss fällt, der Beamte wird an der Hand verletzt, Daniel hat eine Platzwunde an der Stirn. Mehrere Polizisten ringen ihn nieder. Der größte Polizeieinsatz gegen Terrorverdächtige seit der Entführung von Hanns-Martin Schleyer vor dreißig Jahren ist zu Ende. Bei der Festnahme sagt Daniel S.:„Allah hat noch viel mit mir vor.“ Am Tag darauf geht in Karlsruhe Generalbundesanwältin Monika Harms an die Öffentlichkeit, die oberste Terrorfahnderin der Republik. Sie sagt, Deutschland hätten „massive Bombenanschläge“ gedroht, schlimmer als die Anschläge von London oder Madrid: „Wir haben eine der schwerwiegendsten terroristischen Anschlagsplanungen vereitelt, die bisher in der Bundesrepublik angestrengt worden sind.“ Die Bundeskanzlerin dankt. Die EU-Kommission dankt. Die Amerikaner danken. Ihre Terrorwarnung für Deutschland steht noch immer auf ihrer Internetseite für US-Bürger in aller Welt.     Wenige Tage später wird im Internet ein Bekennerschreiben verbreitet. Absender: die „Islamic Dschihad Union“, jene reichlich unbekannte Gruppe aus Usbekistan, der die drei aus Deutschland angehören sollen. Der Text ist in Türkisch, nicht wie sonst üblich in Arabisch oder Usbekisch. Er ist formuliert wie viele dieser Bekennerschreiben. Blumig und in dem bizarren Bemühen, einen Zusammenhang zwischen Deutschland und Usbekistan herzustellen. Es gibt nur einen: den Luftwaffenstützpunkt Termez, den die Bundeswehr nutzt, um Nachschub nach Afghanistan zu bringen. So bemüht sich das anhört, das Bekennerschreiben lässt an einem keinen Zweifel: Dies war nur der erste Versuch – von wem auch immer. Denn selbst wenn die „Islamic Dschihad Union“ nur eine Chimäre des Internets ist, ihre Anhänger sind sehr real.  „Wir beten sehr für unsere Brüder und erklären uns zu ihrer Tatplanung in Deutschland und ihren Zielen. Die Islamic Dschihad Union hatte für Ende 2007 Operationen geplant. Am 5. September 2007 wurden im Land Oberschlehdorn drei unserer Brüder vom deutschen Geheimdienst festgenommen. Sie wollten die amerikanische Militärbasis Ramstein und usbekische und US-Konsulate angreifen. Die Operation hatte den Zweck, die Grausamkeit gegen den Islam und die Muslime dieser Welt durch Deutschland und Usbekistan zu bestrafen und der usbekischen Regierung eine Warnung zukommen zu lassen, die deutschen Soldaten vom Luftwaffenstützpunkt Termez abzuziehen. Diese Länder verstehen Worte nicht. Hier sind Taten notwendig. Auch wenn diese Länder alles mit Lügen überziehen und damit den Islam beschmutzen, werden die Muslime diese Lügen nicht glauben. Die Brüder, die in Deutschland festgenommen wurden, sind nur einige von denen, die in alle vier Himmelsrichtungen auf ähnliche Operationen vorbereitet sind. Sie sind keine Terroristen, sondern gläubige Kämpfer. Die westliche Welt wendet sich verbrecherisch gegen die Moslems, der Westen wurde etliche Male mit Worten gewarnt.  Wir haben verstanden: Sie nehmen unsere Warnungen nicht ernst. Deshalb sind wir gezwungen, den Islam auf diese Weise zu schützen. Die Muslime möchten in Frieden leben. Wenn sich die Gegenseite diesem Frieden nicht nähert und die Gräueltaten gegen die Muslime nicht beendet, werden wir uns und unsere Brüder schützen und die Morde an ihnen rächen. Wir müssen wiederholen: Auch wenn einige unserer Brüder gefangen oder tot sind, wird uns das nicht von unseren Zielen abbringen. Denn wir wandeln auf dem Wege Gottes und werden fortschreiten und uns seinen Wünschen unterwerfen. Diese Rückschläge werden uns in unserem Handeln nur bestärken.“  Ein paar Bezüge in dem Schreiben stimmen nicht, die Bekenner haben keine Ahnung, dass Oberschlehdorf kein Land, sondern ein Dorf ist, sie wissen nicht, dass die Festnahme am 4. und nicht am 5. September erfolgte. Bei den Islamismus-Fachleuten im Stuttgarter Innenministerium zweifelt man daran, ob das alles wirklich authentisch ist. Doch selbst wenn das Bekennerschreiben nicht echt ist, die Täter sind es durchaus.     Die Fahnder haben aus den Aktionen der Gruppe um Fritz G. zwei Lehren gezogen: Der Feind hat sich in die Herzen junger Deutscher geschlichen und sie zu fanatischen Kriegern gemacht. Der Dschihad ist nicht mehr weit weg, seine Krieger sind mitten unter uns. Und: Die Mär von den friedlichen, gegen den islamistischen Terrorismus gefeiten deutschen Türken lässt sich nicht mehr halten. „Wir haben uns in die Tasche gelogen. Wir haben gedacht, wir haben hier nur die lieben Türken, und die Araber sind die Bösen“, sagt Herbert Landolin Müller, der Islamismusexperte des Verfassungsschutzes in Stuttgart. Müller ist ein Freund der arabischen Lebensart, der Kultur, er spricht selbst Arabisch. „Da ist interkultureller Rassismus zum Tragen gekommen.“ Denn längst gibt es Hinweise, dass die Türken nicht immun sind gegen die Radikalisierung. „Das hat nur niemand so richtig wahrgenommen, weil es die politische Correctness ins Wanken gebracht hätte“, sagt Müller.