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SÜDDEUTSCHE ZEITUNG / SEITE 3 / 07. 07. 2004

Urteil im Prozess gegen Johannes Weinrich, der in Paris, Berlin und München Bomben gelegt haben soll: „Es ist zu Ende”

Carlos, Steve und die schöne Frau

Zwei Terroristen im Untergrund als Kampfgenossen und Rivalen – die Täter zeigen auch nach 20 Jahren keine Reue, die Opfer leiden noch immer

Von Annette Ramelsberger

Berlin, 6. Juli – Es war ein wunderbarer Tag, sagt Philippe Rouault, ein Tag mit strahlendem Sonnenschein. Ein Tag, an dem die Mädchen die ersten Sommerkleider ausführten, ein Tag, an dem man auch mitten in Paris, nahe der Champs Elysees, die Vögel zwitschern hörte. Ein Tag voller Verheißung. Philippe war gerade 18 geworden, er arbeitete als Bote für eine Versicherung. Vor der Arbeit wollte er sich noch schnell eine Tafel Schokolade kaufen. Er wuchs ja noch, da hat man ständig Hunger. Philippe lief über dieRue Marbeuf zum nächsten Kiosk. Er hörte, wie die Glocke der nahen Schule die Kinder rief und sich der Gehsteig vor ihm leerte. Er überholte eine junge Frau, die etwas langsamer ging als er. Er bemerkte das orangefarbene Auto am Straßenrand nur aus den Augenwinkeln. Dann änderte sich sein Leben.

Das Auto explodiert. Philippe wird nach vorn geschleudert, sein Rücken brennt, Glassplitter bohren sich in seinen Kopf. Er sieht, wie die riesigen Glasscheiben der Versicherungsgesellschaft direkt vor ihm auf die Erde krachen. Er will weglaufen, er kann nicht. Seine Beine rühren sich nicht. „Ich habe mich angefasst, ich habe mit der Hand mein linkes Bein angefasst. Da spritzte das Blut hoch.” Die Arterie ist zerschnitten. Er ruft: „Helft mir doch”. Er ruft: „Machen Sie was, ich bin dabei abzukratzen.” Es riecht nach Pulver, die Menschen schreien, keiner beachtet den jungen Mann. „Mein ganzes Blut ist aus mir rausgelaufen”, sagt Philippe Rouault. Der Junge weint. Er blutet und weint. Durch die Tränen sieht er eine Schaufensterpuppe. Sie liegt vor einem Geschäft, zwischen den ganzen Splittern. Dann sieht er genauer hin. Es ist keine Puppe. Es ist die junge Frau, die er gerade überholt hat. Die Bombe hat sie zerrissen.

Wie in einem Raubtierkäfig

Philippe Rouault steht jetzt im Saal 500 des Berliner Landgerichts. Es ist ein schöner Tag, fast so schön wie damals vor 22 Jahren. Doch die Sonne kann den dunkel getäfelten Raum nicht erhellen. Eine ganze Riege von Richtern und Schöffen sitzt am Kopfende des Saals. Rechts von Rouault zwei Reihen von Anwälten. Links ein gläserner Kasten, eine Art Raubtierkäfig. In diesem Käfig steht Johannes Weinrich, 56. Der Mann, der Philippe Rouaults Jugend zerstört haben soll. Weinrich senkt den Kopf und dreht sich weg.

Eineinhalb Jahre lang hat das Berliner Landgericht versucht, die Wahrheit über die Bombe in der Rue Marbeuf herauszufinden. Die Wahrheit auch über jene Bande, die sie gelegt haben soll, über deren Chef Illich Ramirez Sanchez, genannt „Carlos”, der sich in den Achtzigerjahren wie ein Popstar des Terrors gerierte, und über seine rechte Hand, den Deutschen Johannes Weinrich. Über eine Bande, die sich auf die Weltrevolution berief und dann doch nur einen kleinen, schmutzigen Privatkrieg anzettelte gegen den französischen Staat. Am Mittwoch soll das Urteil fallen.

Philippe Rouault hat Zwillinge, acht Jahre sind sie jetzt alt. Rouault wird nie mit ihnen Fußball spielen können. Zwei Jahre hat er im Krankenhaus gelegen, er hat eine Plastik-Arterie bekommen und neue Haut – fünf Transplantationen, 26 Operationen. Ein Verkehrsunfall, hat er den Kindern gesagt. Papa hatte einen Verkehrsunfall. Für die Wahrheit sind sie zu jung. Wie soll er ihnen das auch erklären? Wie soll er ihnen erklären, dass es einmal eine zweigeteilte Welt gab? Einen Ostblock, der eine kleine Terrorgruppe unterstützte und Verbrechen deckte? Wie soll er ihnen erklären, dass er auch noch in einen Kampf zweier Männer um eine Frau geriet? Und, vor allem: Wie soll er ihnen erklären, dass das alles vergessen ist, dass sich kaum mehr jemand erinnert an Carlos, Weinrich, an Magdalena Kopp und natürlich auch nicht an ihn, Philippe Rouault? Dass der Terror der Achtzigerjahre längst überdeckt ist von einem anderen Terror, größer, religiöser, fanatischer? Es ist vielleicht ganz gut, dass Rouault die Ausrede mit dem Verkehrsunfall eingefallen ist.

Es ging um eine Frau. Eine sehr schöne Frau. Eine Frau mit dunklem Haar und hellblauen Augen. Magdalena Kopp war 24, als sie Johannes Weinrich traf. Für ihn verließ sie ihre kleine Tochter in Frankfurt. Für ihn ging sie in den Untergrund. Mit Weinrich und seinem Chef Carlos zog sie durch die Welt, durch Palästinenserlager, durch Luxushotels. In Budapest lebten sie dann jahrelang gemeinsam in einer Villa. Und als ihr Freund Weinrich wieder einmal in Sachen Weltrevolution unterwegs war, kam Carlos und nahm sie sich – ein Alpha-Tier, das Beute machte.

Magdalena Kopp kannte die Regeln des Untergrunds: Es war besser, dem Chef zu gehören als dem Adjutanten. Der Adjutant akzeptierte die Regeln ebenfalls. Die drei lebten weiter zusammen, nur jetzt in anderer Besetzung. Als Magdalena Kopp und ein Bandenmitglied in Paris bei den Vorbereitungen zu einem Anschlag geschnappt wurden, begannen Carlos und Weinrich, Frankreich mit Bomben zur Herausgabe ihrer Genossen zu erpressen. Am Tag von Magdalena Kopps Hauptverhandlung, pünktlich um neun Uhr, explodierte der Sprengstoff in der Rue Marbeuf. Neun Monate später ging eine Bombe im Bahnhof von Marseille hoch und eine im Schnellzug von Marseille nach Paris. Und in Berlin stürzte 1984 nach einem Anschlag die Decke des Maison de France ein und begrub einen jungen Mann. Elf Menschen waren es am Ende, so wenigstens zählt die französische Polizei, die Carlos und Weinrich für Kopps Freiheit sterben ließen. Aber Frankreich hatte nicht nachgegeben.

Die Frau weht eher in den Gerichtssaal als dass sie geht. Neben ihrem Anwalt, einem gewaltigen, beleibten Herrn, wirkt sie wie ein Mädchen. Blass und zierlich. Magdalena Kopp ist mittlerweile 56 Jahre alt, sie ist immer noch die Ehefrau von Carlos. Und immer noch schön. Und sie empfindet wohl immer noch etwas für den alten Genossen Weinrich. „Steve” hat sie ihn damals genannt. Und er sie „Lilly”. Heute spricht sie von „Hannes”, wenn sie über ihn redet. Ist sie mit dem Angeklagten Weinrich verwandt, verschwägert, verlobt, fragt der Richter. „Nein”, sagt sie leise. Sie macht von ihrem Recht Gebrauch, die Aussage zu verweigern. Nach fünf Minuten darf sie wieder gehen. Sie geht, ohne sich umzudrehen.

Später sitzt sie in einem Café in Charlottenburg. Sie blickt in den Berliner Regen hinaus, der Kajal um ihre Augen ist verwischt, den roten Lippenstift hat sie frisch nachgezogen. Sie seufzt. Es ist ein langes Seufzen. „Passado”, sagt sie. Vergangen, verweht, vorbei die Zeit, als sie dachten, sie könnten die Welt ändern mit Sprengstoff und Bomben. „Passado”, es klingt rau und sehr entfernt. „Es ist zu Ende”, sagt sie. „Es holt ihn keiner mehr raus.” Nicht aus diesem Glaskäfig und nicht aus seiner Welt. Einer Welt, die niemand mehr versteht, nicht einmal seine alte Gefährtin, und aus der Weinrich vermutlich auch nie mehr herausfindet – es sei denn um den Preis, sich einzugestehen, sinnlos Leben zerstört zu haben. Auch das eigene.

Passado, sagt Magdalena Kopp. Dann fährt sie zurück in die kleine bayerische Stadt Neu-Ulm. Dort wuchs sie auf, dort lebt sie jetzt wieder. Zusammen mit ihrer Tochter, dem Kind von Carlos. Und mit ihren Erinnerungen. Erinnerungen, die sie den deutschen Behörden ausführlich geschildert hat und deswegen auf freiem Fuß blieb. Auf freiem Fuß ist es schwer genug.

Ein Sinn für Details

Eigentlich sollte dieser Prozess klären, ob Johannes Weinrich die Anschläge in Paris, Marseille und auf den Schnellzug begangen hat. Doch in Wirklichkeit erzählt dieser Prozess von lauter beschädigten Leben – den Leben der Opfer, den Leben der Täter.

Der Angeklagte Johannes Weinrich steht zweimal die Woche in diesem gläsernen Raubtierkäfig und beugt sich über seine Akten wie ein Ingenieur über Schaltpläne, die Lesebrille auf halber Nasenlänge, tiefe Furchen im Gesicht. Ordentlich faltet er eine alte Zeitung auseinander und breitet sie akkurat über seinen Tisch aus. Dann legt er auf die Zeitung seine Akten. Diverse Geheimdienste aus Ungarn und der DDR haben sich mit Weinrich befasst. Sie attestierten ihm „ingenieursmäßige Präzision”, detailgenaue Vorbereitung, bei der er sogar noch die Höhe von Häusern aufgeschrieben habe, die einen Kilometer vom Anschlagsort entfernt standen. Er erschien den Geheimdienstlern als technisch versierter, sehr deutscher Pedant.

Weinrich spricht kaum. Am allerersten Verhandlungstag hat ihn der Richter gefragt, was er von Beruf sei. „Gefangener”, hat Weinrich geantwortet, es klang gallig und aufgedreht. Doch es trifft genau die Realität. Er wird nicht aus dem Gefängnis kommen, bis er ein sehr alter Mann ist. Der Staatsanwalt hat gefordert, die besondere Schwere der Schuld zu berücksichtigen, damit „jeder vielleicht einmal aufkommende Begnadigungsgedanke im Keim erstickt wird”.

Geht es nach Staatsanwalt Detlev Mehlis, wird Weinrich wegen sechsfachen Mordes und 21-fachen Mordversuchs verurteilt. „Er hat den Tod von vielen Menschen gewollt, je mehr, desto besser”, sagt Mehlis. Wegen der Bombe im Maison de France sitzt er bereits lebenslänglich. Man hat das Gefühl, Weinrich lebt immer noch mit der Option auf eine Weltrevolution. Er entschuldigt sich nicht. Er distanziert sich nicht. Ein Anwalt der Nebenklage hat ihn aufgefordert, doch einzugestehen, dass der Terror marxistisch-leninistischer Prägung gescheitert sei. Weinrich sagte: „Ich denke nicht daran, der Aufforderung auch nur ansatzweise Folge zu leisten, zu erklären, was gescheitert ist und was nicht.” Er spricht leise, brüchig. Auf ein Schlusswort verzichtet er. Seine drei Verteidiger haben Freispruch für ihn gefordert, nichts sei bewiesen.

Drüben in Paris sitzt noch immer Carlos, der Terrorist aus Venezuela. Er ist wieder liiert, mit seiner Anwältin Isabelle Coutant-Peyre. Er will sie heiraten. Ihm scheint es am besten von allen zu gehen, obwohl auch er bereits zu lebenslänglich verurteilt ist. Wie sein ehemaliger Adjutant glaubt er unbeirrt an die Weltrevolution. Weinrich hat er offenbar abgeschrieben, in privaten Briefen, so heißt es, macht er sich lustig über ihn, den Getreuen. Per Videokonferenz wollten die Berliner Richter Carlos vernehmen – doch das lehnte der ab. Carlos hätte lieber einen Ausflug nach Berlin gemacht. Eine der wenigen Unterbrechungen seiner Haft.

Die Berliner Justizbehörde wollte das Sicherheitsrisiko nicht in Kauf nehmen. Offenbar war Weinrich der Verwaltung den Aufwand einfach nicht mehr wert. Ohnehin gab es viele, die am Sinn dieses Prozesses zweifeln – wo der Angeklagte doch schon in Haft ist, wo er doch schon zu lebenslang verurteilt ist, wo doch alles so lange her ist.

Es war ein Prozess für die Opfer, sagt der Staatsanwalt. „Den Opfern wurde ein Gesicht gegeben”, sagt Stephan Maigné, der acht Betroffene vertritt. „Es ist, als ob man den Deckel einer seit Jahren verschlossenen Mülltonne aufmacht – man hat Angst davor, aber man muss es tun, bevor die Tonne platzt”, sagt Yves Rectenwald, dem die Bombe von Marseille das Bein zerschmettert hat. Und das Leben. Rectenwald versank in Depression, ist seitdem schnell erregbar. Seine Frau ließ sich scheiden.

Für den deutsch-französischen Anwalt Maigné ist der Prozess wie eine Reise in die Vergangenheit. Stephan Maigné war 13, als die Bombe explodierte. Ein Junge, der in einem Vorort von Paris lebte. In der Schule sammelten sie die Bilder des Schreckens, um zu verstehen, was da geschehen war. Sie haben es nicht verstanden. Bis heute hat er diese Bilder nicht vergessen. „Es sah wie ein Kriegsschauplatz aus”, sagt Maigné. Bilder vom Krieg gleich nebenan. 20 Jahre später hat er die Kriegsopfer kennen gelernt: Philippe Rouault, Yves Rectenwald, Marie Pulda.

Selbstbewusster Auftritt

Marie Pulda war in Hochstimmung, als sie am ersten Verhandlungstag den Gerichtssaal betrat. Mit ganz selbstbewussten Schritten. Sie trägt an diesem Tag einen dunklen Hosenanzug, dazu goldene Ohrringe und dezentes Make up. Ohne den Puder würden diefeinen, weißen Linien, die sich durch ihr Gesicht ziehen, sofort auffallen. So muss man schon sehr genau hinsehen, um etwas zu erkennen. „Neben der Nase war ein Loch”, sagt sie. Marie Pulda war 40 Jahre alt, als die Bombe sie traf, die die Carlos-Weinrich-Bande 1981 vor dem Sender Radio Free Europe in München gelegt haben soll. Fünf Jahre lang haben die Ärzte versucht, aus ihr wieder einen Menschen zu machen, der sich im Spiegel ertragen kann. Sie haben ihr den eigenen Beckenknochen ins Gesicht transplantiert. Pulda hat Weinrich direkt angeblickt. Und es ging ihr gut dabei.

An diesem Mittwoch, dem letzten Tag des Prozesses, dem Tag der Urteilsverkündung, wird Marie Pulda nicht im Gerichtssaal sein. Ein paar Monate nach Prozessbeginn im März 2003 wurde bei ihr Krebs entdeckt. Es ging plötzlich sehr schnell, sagt ihr Anwalt Andreas Schulz. Posttraumatische Belastung, Immunsystem zusammengebrochen. Am 15. Oktober 2003 ist Marie Pulda gestorben. Sollte Weinrich verurteilt werden, wird es auch nicht wegen Marie Pulda sein. Das Verfahren wegen des Anschlags auf Radio Free Europe wurde abgetrennt.

Auch die Eltern von Nelly Guillerme werden nicht im Gerichtssaal sein. Die Eltern der jungen Frau, die in der Rue Marbeuf getötet wurde. Die beiden alten Leute sind dem Ansturm der Erinnerung nicht gewachsen. Beim letzten Zusammentreffen mit dem französischen Untersuchungsrichter erlitt der alte Vater einen Schwächeanfall. Nelly Guillerme, die der junge Philippe Rouault damals für eine Schaufensterpuppe gehalten hatte, wollte sechs Wochen später heiraten. Sie war schwanger gewesen. Ihr Kind wäre heute 21 Jahre alt.

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SÜDDEUTSCHE ZEITUNG / Seite Drei / 20.07.2004 

Freya von Moltke, eine der Witwen des deutschen Widerstands: „Es ist so unbeschreiblich, wenn es einen trifft”

Wenn der Tod auf ewig bindet

Sie hatte vier Monate Zeit, um Abschied zu nehmen – im fernen Vermont lebt eine 93-Jährige mit der Erinnerung und 1600 Briefen ihres Mannes

Von Annette Ramelsberger

Norwich, im Juli – Draußen blühen die Rhododendren, die Vögel zwitschern, von den Nachbarn lärmen die Rasenmäher herüber, die die Vorgärten der Häuser im amerikanischen Vermont aussehen lassen wie frisch manikürt. Drinnen ist es ganz still. Keine Uhr tickt, kein Telefon läutet, noch nicht einmal eine Fliege brummt gegen die Fensterscheibe. Es ist so still, dass man glaubt, Gedanken hören zu können. Die Gedanken dieser Frau, die sich in die tiefen Polster ihrer Couch gelehnt hat. Sie hat die Augen geschlossen. Nur die langen, kräftigen Finger wandern über ihr Gesicht, als ob sie Schleier von der Vergangenheit wegwischen wollte – wie Spinnengewebe. Die Finger streichen über die Augen, über die Stirn, die Schläfen. Man sieht, wie Erinnerungen auftauchen, sieht, wie sie von der Frau Besitz ergreifen, wie die Lider flattern und die Hände. Jetzt, jetzt wird sie sprechen. Jetzt muss sie sprechen. Da räuspert sich die Frau, sie schlägt die Augen auf und – verstummt. Nach einer Weile sagt sie mit rauer Stimme: „Es ist unbeschreiblich, wenn es einen trifft.” So unbeschreiblich, dass sie kaum darüber sprechen kann. Immer noch nicht. Auch heute noch nicht, nach 60 Jahren.

Freya von Moltke war 33, als ihr der Mann ermordet wurde. Ermordet, weil er und seine Freunde gewagt hatten zu denken. Mehr war es nicht. Helmuth James Graf von Moltke und seine Frau Freya hatten mit ihren Freunden vom Kreisauer Kreis darüber nachgedacht, wie das Deutschland nach Hitler aussehen sollte. Sie hatten die Alternative geplant, die Claus Schenk Graf von Stauffenberg am 20. Juli herbeibomben wollte. Freya von Moltke hat Stauffenberg nie getroffen. Und dennoch hat er ihr Leben verändert.

Es muss der Blick gewesen sein, der sie nie wieder losgelassen hat. Der Blick ihres Mannes auf dem Weg ins Gefängnis. Ein Blick ohne ein Wort. Sie stand in der Pforte der Haftanstalt Tegel in Berlin, unerkannt, als er vorbeigeführt wurde, er, der große, stolze Mann, der Graf, in Sträflingskleidern. Er war ganz nah. Sie schaute ihn an, er schaute sie an. Zwei Verschwörer, die sich ihrer Liebe versicherten, ohne sich zu verraten. Diszipliniert bis ins Herz. „Er wusste, dass ich wusste. Ich wusste, dass er wusste”, sagt Freya von Moltke. Sie deutet von ihrem Sofa auf den Fliederbusch neben dem Haus, vier, fünf Meter entfernt. „Weiter war er nicht weg.” Es muss dieser Blick sein, der sie bis heute fest hält.

„Mein liebes Herz”

Die Witwen des Widerstands haben nicht wieder geheiratet. Nicht die Frau des Peter Graf Yorck von Wartenburg, nicht die Frau des Adolf Reichwein, nicht die Frau des Adam von Trott zu Solz, nicht die Frau des Hans Bernd von Haeften, nicht die Frau von Klaus Schenk Graf von Stauffenberg. Als wenn sie der Tod der Männer gebunden hätte, für alle Zeit.

Mit 20 hat Freya von Moltke ihren Mann geheiratet, beide studierten sie Jura. Er muss ein durchsetzungsstarker Mann gewesen sein, der mit 22 Jahren mit den Banken verhandelte, um das völlig verschuldete Familiengut Kreisau zu retten. Groß war er, viel größer als sie. „Küssen konnte ich ihn nur, wenn er wollte”, sagt sie. „Oder wenn er saß.” Die beiden führten meist eine Fernbeziehung, er in Berlin, sie auf dem Gut in Schlesien. Sie kann ihren Mann nicht beschreiben. Sie will es auch gar nicht. „Das ist nicht meine Aufgabe”, sagt Freya von Moltke bestimmt. So, als wenn sie damit etwas preisgäbe von dieser Verbindung, die nur ihn und sie angeht. „Lesen Sie seine Briefe”, sagt sie. „Da erkennen Sie ihn am besten.”

Über 1600 Briefe hat ihr Mann an sie geschrieben – Dokumente einer Ehe, Dokumente des Widerstands, am Ende Dokumente des Glaubens. Moltkes letzter Brief, wenige Tage vor der Hinrichtung geschrieben, ist eine seltsame Mischung aus Erhabenheit und Erdennähe, aus Sorge um die Familie und der Entrücktheit eines Mannes, der schon Abschied genommen hat von der Welt: „Darum kann ich nur eines sagen, mein liebes Herz: möge Gott Dir so gnädig sein wie mir, dann macht selbst der tote Ehemann gar nichts. Seine Allmacht vermag er eben auch zu demonstrieren, wenn du Eierkuchen für die Söhnchen machst oder Puschti beseitigst, obwohl es das hoffentlich nicht mehr gibt.” Puschti – so hieß im Hause Moltke, wenn eines der Kinder in die Hose gemacht hatte.

Es sind Abschiedsbriefe, ohne Adieu zu sagen: „Ich sollte wohl von Dir Abschied nehmen – ich vermag’s nicht; ich sollte wohl Deinen Alltag bedauern und betrauen – ich vermag’s nicht. Ich sollte wohl der Lasten gedenken, die jetzt auf Dich fallen – ich vermag’s nicht. Ich kann nur eines sagen: wenn Du das Gefühl absoluter Geborgenheit erhältst, wenn der Herr es Dir schenkt, was Du ohne diese Zeit und ihren Abschluss nicht hättest, so hinterlasse ich Dir einen nicht-konfiszierbaren Schatz, demgegenüber selbst mein Leben nicht wiegt.”

Freya von Moltke hat die Briefe alle aufbewahrt, 60 Jahre lang. Sie hat sie auf dem Gut Kreisau in Schlesien vor den Nazis versteckt und vor den Russen – in Bienenstöcken. Sie hat sie nach Südafrika mitgenommen. Dahin ist sie nach Kriegsende mit ihren Söhnen gezogen. Sie hat sie alle abgeschrieben, als Buch herausgegeben und verwahrt sie nun in jenem kleinen Haus in Vermont, wo sie seit 44 Jahren lebt. Sie holt sie aus dem Büroschrank, letzte Schublade unten links. Es sind kleine Blätter, fast alle DIN A5. Kaum vergilbt, wie gestern geschrieben. In einer gestochen scharfen, winzig kleinen Schrift. Freya von Moltke ist jetzt 93 Jahre alt. Sie hat eisgraues Haar, sie hört schlecht, aber sie braucht keine Brille. Sie hat sich mit den Briefen auf ihr Bett gesetzt. Sie liest sie ohne Lupe. Sie kennt sie.

Sie hatten vier Monate, um Abschied voneinander zu nehmen. „Ein Mann und eine Frau. Der Höhepunkt unseres gemeinsamen Lebens – die schwerste Zeit unseres gemeinsamen Lebens”, sagt sie. Sie bereut nichts. Sie nahm es an, wie es kam. „Wir hatten die Überzeugung, auf der richtigen Seite zu stehen. Wir waren vollkommen überzeugt davon, dass wir das Richtige taten – dann mussten wir auch die Folgen tragen. Dieses Niveau des Lebens habe ich später nie wieder erreicht.”

Sie ist für ihn zu Freisler gegangen, dem Blutrichter am Volksgerichtshof. Sie ist für ihn zur Gestapo gegangen, der gefürchteten Geheimpolizei. Als sie die Treppe hochging im Hauptquartier der SS in der Prinz-Albrecht-Straße in Berlin, war sie ganz kühl. „Ich hatte einen Auftrag”, sagt sie. „Ich dachte mir nur: Jetzt bist du im Maul des Löwen.” Sie hatte ihr Kostümchen angezogen, die Frau Gräfin. Sie lächelte freundlich. Sie sah hübsch aus mit ihrem glatten schwarzen Haar und den großen Augen. Sie spielte die Unwissende. Sie, die alles wusste. Alles unterstützte. Als sie das Vorzimmer von Gestapo-General Heinrich Müller betrat, unterhielten sich junge SS-Männer gerade über ihre neuen Uniformen. Sie kam ohne Anmeldung, aber sie stammte aus der Familie derer von Moltkes, den Nachfahren des alten Feldmarschalls, den die Nazis verehrten.

General Müller empfing die junge Frau. Sie sagte: „Mein Mann ist völlig unschuldig. Er wäre dankbar, wenn Sie ihn empfangen könnten, damit er Ihnen das darlegen kann.” Der General war höflich, aber er ließ keinen Zweifel: „Nach 1914/18 haben wir unsere Feinde am Leben gelassen, das passiert uns nicht nochmal. Wir werden unsere Feinde vernichten.” „Herr General”, sagte sie da, „was auch passiert, ich werde meine Söhne in Liebe und Ehrfurcht vor ihrem

Vater erziehen.” Dann ging sie. Der General kam ihr auf den Gang nach: „Wenn das alles vorüber ist, kommen Sie zu uns, wir werden Ihnen gerne helfen”, sagte er. Für Freya von Moltke klang das wie: Wir bringen Ihren Mann um, aber gegen Sie haben wir nichts.

Man muss das aus ihr herauslocken. Sie erzählt das nicht einfach so. „Es war gar nicht mutig, ich habe nur getan, was der Helmuth mich gebeten hat”, sagt sie. Im gleichen Ton, in dem sie davon berichtet, wie sie damals die Milch von Kreisau an die Molkerei geliefert hat. Sie erhebt die Stimme nicht, sie hebt nichts hervor. Für sie war das alles nur Dienst an ihrem Mann.Sonst nichts. Es läutet. Sie steht auf und geht ans Telefon. Ihr Sohn ist dran. Jener Sohn, der einmal sagte, über den Vater sei nicht viel gesprochen worden in der Familie. Aber er sei immer anwesend gewesen. Man kann sicher sein: So ein Satz gefällt Freya von Moltke.

In der Regierung nach Hitler

Dreimal hat sie ihren Mann noch gesehen, in der Haftanstalt in Tegel. Immer eine halbe Stunde lang. Hin– und hergerissen zwischen der Hoffnung, dass doch noch die Briten vorrücken und ihn befreien, und der Ahnung, dass der Tod schneller sein werde. Am 29. November 1944 feierte Gefängnispfarrer Harald Poelchau, ein persönlicher Freund aus dem Widerstand, das letzte Abendmahl mit den Moltkes. Es war wie eine zweite Hochzeit. „Er hat mich auf den Tod hin verheiratet”, sagt Freya von Moltke.

Helmuth James von Moltke war eigentlich sicher gewesen. Er saß schon in Haft, als Stauffenberg die Bombe zündete – ein besseres Alibi konnte er nicht haben. Moltke war schon Monate vorher verhaftet worden, weil er einen Freund vor der Festnahme gewarnt hatte. Eigentlich hofften alle, er werde bald freikommen, denn die Nazis hatten nichts gegen ihn in der Hand. Dass er der Motor des Kreisauer Kreises war, wussten sie nicht. Auch nicht, dass er in der Regierung nach Hitler sitzen sollte, dass die Pläne dafür fertig waren, wie Deutschland nach dem Nationalsozialismus aussehen sollte. Es ist nichts aus diesen Plänen geworden – aber allein, dass es sie gab, ist ein historisches Verdienst. Durch das Attentat auf Hitler flogen nach und nach auch die Kreisauer auf. Am 23. Januar 1945 wurde Helmuth James von Moltke hingerichtet. Berlin stand da längst in Flammen.

Sie schrieb tatsächlich: „Mir selbst geht es gut. Meine Kräfte wurden ungemein benötigt. …. Ja, es geht mir gut, ich muss es wiederholen. …. Ich sitze nicht mehr ganz so fest auf dieser Welt und spüre doch, wie sehr ich in ihr gebraucht werde.” Der Brief an den Gefängnispfarrer stammt vom 1. Februar 1945, neun Tage nach der Hinrichtung ihres Mannes. Geschrieben aus Kreisau, wohin sie zurückgekehrt war. Sie ist für ihre Kinder am Leben geblieben, die damals erst sieben und drei Jahre alt waren. Wie sehr sie gelitten hat, hat sie nie wirklich erzählt. Sie hat sich wohl auch nichts anmerken lassen. Es ist nicht ihre Art. Einmal, ein Jahr nach der Hinrichtung, in Berlin rauchten noch die Trümmer, hat ihr Bruder sie in die Schweiz eingeladen. Sie saßen auf einer Terrasse, blickten auf einen See. Es war sonnig, es war schön. „Bist du jetzt wieder glücklich?” fragte ihr Bruder. Sie erzählt nicht weiter. „Helmuth war das Zentrum meines Lebens”, sagt sie und blickt weg. Es dauerte lange, bis sie noch einmal glücklich war.

Freya von Moltke kocht Suppe. Sie steht in der Küche ihres Hauses im kleinen Ort Norwich, so wie damals, als sie den Kindern auf Gut Kreisau Eierkuchen machte. Zupackend. Ohne Umstände. Sie trägt Jeans, eine Strickjacke und feste Schuhe. Sie jätet den Garten und fährt mit ihrem Golf zum Einkaufen.

Vermutlich wurde sie erst wieder lebendig, als sie diesen kleinen, drahtigen Mann kennen lernte. 23 Jahre älter als sie. Einer, der lachte und schimpfte und kämpfte, der auf Herz und Intuition setzte und nicht nur auf Verstand. Einen Verstand, dem sie ihr Leben lang gehorcht hatte: damals, als sie sich um Kreisau gekümmert hat, weil ihre Schwiegermutter gestorben war und sie deswegen ihre Ehe zu Helmuth nur als Fernbeziehung führen konnte. Nach dem Krieg dann wieder, als sie eigentlich bei ihren Freunden in Berlin bleiben wollte und doch nach Südafrika ging, wo eine kleine Erbschaft auf die Kinder wartete, gute Schulen, Sonne, genug Essen statt rauchender Trümmer und Essensmarken in Berlin.

Sie lernte diesen Mann erst sehr viel später kennen. Ende der 50er Jahre. Eugen Rosenstock-Huessy, der schon 1933 aus Deutschland emigriert war und in Amerika lehrte. Ein Mann, der vor lauter Temperament während der Autofahrt die Hände vom Lenkrad nahm, weil er doch mit den Händen erklären musste. Ein Mann, der klug war, gelehrt, „wahrscheinlich ein Genie”, sagt Freya von Moltke. Jurist, Soziologe, Philosophieprofessor. Ein Mann, der gerne aneckte. Ein „Luther der Soziologie”, sagt der Berliner Theologe Wolfgang Ullmann, der ihn früh erlebte. „Wenn der ein Zimmer betrat, war das Zimmer voll.” Freya von Moltke zog zu Rosenstock-Huessy, als seine langjährige Ehefrau Margrit starb. Sie verließ Berlin, überquerte den Ozean, zog in sein Haus, alte Freunde sagen: Hals über Kopf.

„Doch”, sagt sie, „das Zusammenleben mit diesem lieben Menschen machte mich glücklich. Mit dem alten Eugen war ich glücklich.” 13 Jahre waren ihr mit ihm vergönnt. Sie ahnte, dass er vor ihr sterben würde. Und sie fürchtete es: „Den begraben zu müssen, das halte ich nicht aus, dachte ich.” 84 war Rosenstock-Huessy, als er starb, seine Gefährtin war erst 61.

Nie hat sie die Beziehung zu Rosenstock als Konkurrenz zu ihrem Mann empfunden. „Das war ganz was anderes”, sagt sie. „Ich bin ein Teil von Helmuth.” Für sie war immer klar: Es gab die Moltkes und es gab die Rosenstock-Huessys. Sie hat sich eine ganz eigene Synthese ihrer verschiedenen Leben geschaffen. Ihr Bett und ihren Computer hat sie in das alte Arbeitszimmer von Rosenstock gestellt, von hier aus schreibt sie die Briefe in Sachen Kreisau. Und in Sachen Rosenstock. Eine Sachwalterin zweier Welten.

Es kam völlig überraschend. Kohl rief an. Bundeskanzler Helmut Kohl. Er wollte einen der Moltkes dabei haben bei der Versöhnungsmesse zwischen Deutschen und Polen, die ausgerechnet auf Gut Kreisau stattfinden sollte. Und der Enkel von Freya von Moltke war gerade in Europa. 1989 war das. Doch Kohl hatte sich getäuscht. Freya von Moltke wollte nicht, dass die Familie einfach zurück geht nach Kreisau. Nicht als Girlande des deutschen Kanzlers. Nicht, als wenn die Moltkes ihr Gut – und wenn auch nur symbolisch – zurückerobern wollten. „Ich gehe erst, wenn die Polen mich einladen”, sagte sie. Der Enkel gehorchte der Großmutter. Kohl musste allein nach Kreisau reisen.

Auf der Stufe des Schlosses

Die Polen luden sie dann sehr schnell ein, und Freya von Moltke bekam ihre letzte große Aufgabe. Sie wurde die Seele eines deutsch-polnischen Begegnungszentrums, das jedes Jahr 4000 Jugendliche aus Europa zusammenbringt – im Geiste des Kreisauer Kreises. Der oppositionelle Katholische Intelligenzclub in Breslau hatte Kreisau entdeckt, dann machte sich Tadeusz Mazowiecki, der erste demokratische Ministerpräsident Polens nach der Wende, den Gedanken zu eigen. Jedes Jahr war Freya von Moltke seitdem einmal dort. Nie aber hat sie auf dem Gut übernachtet, um nur ja nicht die Angst zu nähren, die Moltkes wollten Kreisau zurück. Nie schwang sie das große Wort, sondern saß still auf den Stufen des frisch renovierten Schlosses. Sie war einfach nur da, das genügte. Bis jetzt.

Gerade hat sie wieder eine Mail losgeschickt von ihrem Computer neben dem Bett. Einen Dankesbrief muss sie noch schreiben, an Richard von Weizsäcker, auch an Gesine Schwan. Der Alt-Bundespräsident und die Präsidentin der Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) haben zugesagt, im Kuratorium ihrer Stiftung zu sitzen: der Freya-von-Moltke-Stiftung für das neue Kreisau. Noch einmal unternimmt Freya von Moltke einen neuen Anlauf: Sie will mit der Stiftung den Betrieb der Jugendbegegnung sichern, die akut von Geldmangel bedroht ist. Sie will Kreisau nicht zurück wie viele Adelige, die ihre Besitztümer in Polen erstreiten wollen – im Gegenteil: Sie will Kreisau etwas geben. Den 20. Juli nutzt sie, um die Aufmerksamkeit auf Kreisau zu richten. Deswegen macht sie noch einmal die große Reise über den Atlantik.

Dann will sie irgendwann aber auch ihre Ruhe haben. Mit 90, gut, da hat sie all die Aufmerksamkeiten noch entgegen genommen. Aber dann wurde sie 91, 92, 93 Jahre alt. „Vielleicht ist es ja undankbar”, sagt sie leise. „Aber ich habe eigentlich genug. Ich freue mich nicht mehr auf jeden neuen Tag. Mein Leben ist zu lang. Das Da-Sein ist so mühsam. Es ist genug. Aber ich werde ja nicht gefragt.”

Wir fahren auf den Friedhof von Norwich. Ein hügeliges Gelände, mit typisch amerikanischen Grabstätten: eingelassene Steine im Rasen. „Da liegen die Rosenstocks”, sagt sie und deutet auf ein kleines Geviert. Ihren Gefährten hat sie im Tod seiner Frau zurückgegeben. Sie selbst hat sich einen Platz dreihundert Meter weiter gekauft, auf einem Hang mit Blick auf die Hügel von Vermont, die den Hügeln um Kreisau so ähnlich sehen. Auf dem Stein wird nur „Freya von Moltke” stehen und der Zusatz „wife of Helmuth James von Moltke”. Ihr Mann hat kein Grab, seine Asche wurde 1945 auf den Rieselfeldern von Berlin verstreut.

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SÜDDEUTSCHE ZEITUNG / SEITE DREI / 16.05.2012

Ein kurzes deutsches Leben 

Zehn Kinder, zwei Häuser, erfolgreich und gemocht: Die Özmens waren ein Musterbeispiel für Integration.
Dann wird die 18-jährige Tochter entführt und getötet. Angeklagt sind nun ihre Geschwister. Ein Drama aus Detmold. 

Von Annette Ramelsberger

Detmold – Es waren einmal zwei Schwestern. Die ältere war klug und strebsam, fleißig und verantwortungsvoll. Sie arbeitete bis zum Umfallen, gehorchte ihren Eltern, machte Abitur und schaffte es bis ins Bürgeramt der Stadt Detmold. Sie lebte noch mit 27 bei ihrer Familie und hielt sich an die Regeln ihres jesidischen Glaubens. Auf sie waren alle sehr stolz. Sie gereichte ihrer Familie zur Ehre. Diese Schwester heißt Sirin.

Und es gab die jüngere Schwester. Die war nicht ganz so strebsam, schmiss die Schule, ging abends lange aus und erlaubte sich, einen Freund zu haben. Einen deutschen noch dazu. Sie gehorchte nicht immer und floh am Ende von zu Hause. Auf diese Tochter waren sie nicht stolz. Und sie kratzte, so sahen sie es, an der Ehre der Familie. Der Name dieser Schwester war Arzu.

„Deutschland ist ein wunderbares Land“, hat der Vater von Arzu und Sirin einmal geschrieben. Er erwarte von seinen Kindern, dass sie die Möglichkeiten hier nutzten, dass sie gute Noten nach Hause brächten und sich ordentlich benähmen. Das Wichtigste aber, was er von den Kindern erwarte, schreibt Fendi Özmen, „das Wichtigste ist, dass sie sich integrieren.“

Seine zehn Kinder taten wie geheißen: Die Jungs wurden geschätzte Handwerker in den örtlichen Betrieben, aktiv in der Freiwilligen Feuerwehr. Zwei Häuser hat die Familie in Detmold, modern und gepflegt. Und die große Tochter Sirin – die galt als Vorzeige-Frau der Stadtverwaltung: stellvertretende Marktmeisterin, auf dem Sprung in den höheren Dienst, engagiert in der Gewerkschaft. Wenn es eine Familie gibt, die hier in Deutschland wirklich integriert ist, dann doch die Özmens.

Nun sitzen Sirin und vier ihrer Brüder vor dem Landgericht Detmold, angeklagt, ihre kleine Schwester Arzu gemeinsam entführt, geschlagen und dann getötet zu haben. Ein Bruder hat vor Gericht bereits gestanden, das Mädchen erschossen zu haben. Und Sirin erklärte, sie sei die treibende Kraft dabei gewesen, Arzu zu finden und heimzuholen. Aus moralischen Gründen.

Der alte Bäckermeister schluckt. „Sie waren doch wie unsere Kinder“, sagt er. „Wir haben Freud und Leid miteinander geteilt.“ Die Bäckerei Müller liegt keine 100 Meter vom Haus der Özmens entfernt, die Ladenklingel geht im Minutentakt. Früher sind hier ständig die Kinder der Familie Özmen reingekommen. Seit 15 Jahren kennen Johannes Müller, 70, und seine Frau Elisabeth die Familie. Sirin kam damals zu ihnen und fragte, ob sie nicht Hilfe brauchen könnten im Laden. Sie seien eine große Familie mit vielen Kindern. Seit diesem Tag waren die Müllers und die Özmens ein Herz und eine Seele. Die Mutter putzte im Laden, Sirin und Arzu verkauften Brötchen, was übrig blieb, bekam die Familie Özmen. Die Jungs halfen, wenn eine Leitung leckte. Die Müllers waren bei den Hochzeiten eingeladen, man trank an Geburtstagen zusammen Schnaps. Alle duzten sich.

Vor Gericht hat Bäcker Müller kein böses Wort verloren. Vor allem nicht über Osman. Der ist 22, ein schmaler Junge. Er hat die Schüsse auf Arzu gestanden. Wie versteinert sitzt er auf der Anklagebank. „Wenn mich einer gefragt hätte, wem ich es am wenigsten zutraue, dann dem Osman“, sagt Johannes Müller. Er geht ganz nah an Osman vorbei, er schaut ihn an, streckt schon die Hand vor, um den Jungen zu berühren. Doch Osman schaut an ihm vorbei, als wäre er nicht da. Prallt zurück, als wäre eine Glasscheibe zwischen ihm und dem alten Mann. Es ist, als wenn die ganze Familie eine Panzerglasscheibe eingezogen hätte zwischen sich und den anderen.

Die Familie Özmen ist vor mehr als 20 Jahren nach Deutschland gekommen, sie hat sich vor 15 Jahren einbürgern lassen. Die Özmens sind eine deutsche Familie aus Detmold. Die Angeschuldigten, so heißt es in der Anklage, sind unter den hiesigen Wertvorstellungen großgeworden.

Wenn Frau Özmen heute die Müllers sieht, dann wechselt sie die Straßenseite. Die Kinder wenden den Blick ab. Und der Vater hat den Bäcker, seinen alten Freund, von der Türschwelle gewiesen, als der zum Kondolieren kam. Er und seine Frau seien schuld. Sie hätten eingreifen müssen. Die Familie Müller habe die Familie Özmen zerstört.

Es war so harmlos. „Ich fand es eigentlich ganz schön“, sagt Elisabeth Müller, die Bäckersfrau, und ein Lächeln huscht über ihre Lippen. Die 18 Jahre alte Arzu hatte sich in der Bäckerei im letzten Sommer in den Gesellen Alexander verliebt. Sie tranken zusammen Kaffee, lächelten sich an. Ein Sonnenschein sei Arzu gewesen, sagen die Müllers. Eines Tages schenkte Alex seiner Arzu zehn rote Rosen, für zehn Wochen Zusammensein. Für die Rosen bekam Arzu zu Hause Dresche. Vater und Bruder schlugen sie. Als sie immer noch mit Alex zusammenblieb, zwang der Vater sie, die Arbeit in der Bäckerei aufzugeben. Die Familie sperrte Arzu tagelang ein. Ihr gelang die Flucht, sie erstattete Anzeige gegen Vater und Bruder. Anfang September ging sie in einFrauenhaus. Sie änderte ihren Namen, brach mit der Familie.

„Oh mein Gott, du hast Papa und Osman angezeigt. Zieh die Anzeige zurück. Zieh die Anzeige zurück. Zieh die Anzeige zurück.“ Sirin, die große Schwester, schreibt Arzu nun E-Mails, jeden Tag. Rund um die Uhr. „Komm nach Haus. Du bist doch wahnsinnig. Zieh die Anzeige zurück.“ Sirin lockt, Sirin droht, Sirin schmeichelt. „Arzu-Schatz, brauchst du Klamotten, Geld? Ich flehe dich an, komm zurück. Du bist keine Christin.“ Und sie lügt: „Papa hat einen Herzinfarkt.“ – „Cacum“ nennt sie Arzu, das ist kurdisch und bedeutet „kleine Maus“. Sie schließt ihre Mails mit „Bussi, Deine Sirin“. Und immer wieder steht darin: „Du brauchst keine Angst haben. Es tut dir keiner was. Wir vermissen dich.“

Arzu aber hat Angst. Die Jesiden, denen die kurdischstämmige Familie Özmen angehört, haben archaische Vorschriften. Es darf nur untereinander geheiratet werden. Frauen gelten als Besitz. Wenn ein Vater es nicht schafft, seinen Besitz zusammenzuhalten, dann gilt er nichts mehr. Schon trauen sich die Özmens nicht mehr zu Hochzeiten und Familienfesten. Wegen der Schande mit Arzu. Sie muss zurückkommen. Und Sirin soll es richten.

Sirin sitzt in der Bürgerberatung der Stadt Detmold. Sie hat Zugang zu allen Datenbänken. Wochenlang checkt sie alle Einträge, sie sucht nach Sirin. Sie telefoniert alle Frauenhäuser ab, alle Hilfsorganisationen, sie schreibt ein Einschreiben mit Rückschein an das Frauenhaus in Oberhausen – „und wenn Arzu das abgeholt hätte, wären Sie ihr auf der Spur gewesen“, sagt der Richter. Ja, sagt Sirin. Sie geht zu Arzus Freund Alexander, sie bedrängt ihn, wo die Schwester sein könnte. Sie ist bei den Müllers, fragt, immer wieder. Dann bekommt sie in der Stadtverwaltung mit, dass eine Anwältin für Arzu eine Geburtsurkunde anfordert – denn Arzu will einen neuen Namen annehmen und eine neue Identität. Sie schreibt auch der Anwältin sofort: Sie wäre ihr sehr verbunden, wenn sie ihr behilflich sein könnte, einen Kontakt zu Arzu herzustellen. So gewählt drückt sich Sirin aus. Auch den Brief ihrer Eltern an die Polizei hat Sirin formuliert, den Brief, in dem die Özmens erklären, Deutschland sei ein wunderbares Land. Mit dem Brief antwortet die Familie auf Arzus Anzeige. Der Vater erklärt darin, dass die Tochter in der Schule versagt habe. Und er schreibt: „Ich war so wütend, dass ich dies unsere arme Tochter spüren ließ. Es tut mir schlecklich leid.“ Was er Arzu angetan habe, sei nicht wieder gutzumachen. Er möchte nur eines, „meine kleine Tochter endlich wieder in die Arme nehmen“.

Eine Woche später hat die Familie Özmen Arzu wieder in ihren Armen. Sie haben das Mädchen aufgespürt, es hat das Frauenhaus für eine Nacht verlassen und den Abend bei ihrem Freund Alexander in Detmold verbracht. Sirin hat sich an das Fenster herangeschlichen, die Stimme von Arzu gehört und die Brüder alarmiert. An diesem 1. November, um 1.15 Uhr, splittern die Scheiben, die Özmens treten die Tür ein, Sirin schlägt Alexander, der Arzu beschützen will, eine Flasche über den Kopf. Die Brüder sind maskiert, sie holen Arzu aus der Wohnung und verschleppen sie in ihren Wagen. Das Letzte, was Alexander von seiner Freundin sieht, ist ihr pinkfarbener Socken – im Rinnstein. Erst im Januar wird ihre Leiche gefunden, an einem Golfplatz bei Lübeck.

In jener Novembernacht steigen die Geschwister Sirin, Osman und Kirer mit Arzu ins Auto. Die anderen beiden Brüder schicken sie nach Hause. Sie berichten vor Gericht, sie hätten Arzu zu einem Onkel in Hamburg bringen wollen, dann in einem Wald eine Pinkelpause gemacht. Da habe Arzu versucht, sich loszureißen, ihren Bruder Osman angespuckt und ihn beschimpft. Er sei ausgerastet und habe sie im Gerangel erschossen, so sagt er. Die anderen hätten nichts gesehen. Sirin sagt: „Ich bin im Auto sitzen geblieben.“ Kirer sagt: „Ich habe mein Geschäft woanders gemacht.“ Osman sagt: „Man hat das Auto nicht mehr gesehen, von dort, wo ich mit Arzu war.“

Diese Erklärung hat viele Vorteile für die Angeklagten: Sirin und ihre Brüder Osman und Kirer sind des gemeinschaftlichen Mordes angeklagt. Wenn Osman die Schuld auf sich nimmt und erklärt, er habe geschossen, die anderen hätten nichts gesehen und auch nichts mitgekriegt, dann kann das Gericht den beiden Geschwistern möglicherweise nur noch Geiselnahme nachweisen. Für Geiselnahme mit Todesfolge kann man auch zu lebenslanger Haft verurteilt werden, aber nur wenn man „leichtfertig“ den Tod der Entführten in Kauf genommen hat. Mussten die Geschwister davon ausgehen, dass die Entführung Arzus tödlich endet? Die Verteidigung, die Anwaltskanzlei Binder aus Bielefeld, die alle Geschwister vertritt, sagt: nein.

Auch in eigener Sache ist die Verteidigungslinie von Osman klar: Aus dem Mord, der ihm vorgeworfen wird, soll ein Totschlag werden. Seine Schwester habe wild um sich geschlagen, sie habe ihn provoziert. Womit, fragt Richter Michael Reinecke. „Sie hat mir ins Gesicht gespuckt und hat mich gefragt, warum wir das machen, warum wir sie aus der Wohnung geholt haben.“ – „Das sind doch nur vernünftige Fragen“, sagt Richter Reinecke. „Ich war überfordert und gestresst“, sagt Osman. „Lag ihre Schwester am Boden“, fragt der Richter. „Lagen Sie auf ihr?“ „Es hat sich alles bewegt“, sagt Osman. „Hat sich der Kopf bewegt“, fragt der Richter. „Ja, der Kopf hat sich bewegt.“

Laut Rechtsmedizin kann das nicht stimmen. Die Mediziner gehen von einem „statischen Geschehen“ aus, der Kopf muss ruhig gewesen sein. Die Schmauchspuren zeugen von zwei aufgesetzten Schüssen, die Schusskanäle verlaufen parallel. Das heißt: Jemand muss Arzu die Waffe an den Kopf gehalten und zweimal abgedrückt haben. Wie bei einer Hinrichtung. Nicht wie in einem Gerangel.

Osman kann auch nicht erklären, woher die Waffe kam. Er habe sie plötzlich in seiner Tasche gesehen. „War sie entsichert?“ fragt der Richter. Ja, sagt Osman.

Sirin berichtet, sie sei nach den Schüssen zu Arzu und Osman gelaufen. Sie habe sich nicht getraut, die tote Arzu anzusehen, ihre „kleine Maus“. Sie schaut nicht nach, ob Arzu noch lebt. Ob man ihr noch helfen kann. Sie nimmt sie nicht in den Arm. Auch sie sei „schockiert, entsetzt, überfordert“ gewesen. „Ich konnte mit der Tatsache, dass Arzu umgebracht wurde, nicht umgehen.“ Wenn es um die Tat geht, dann wirken die Worte der Geschwister wie einstudiert. Gestanzt.

Sirin spricht zwei Stunden vor Gericht, leise, aber jedes Wort sitzt, jeder Satz ohne Makel. Die graue Bluse faltenfrei, der Blick angemessen verzweifelt, das Gesicht von Augenringen verschattet. Sie schickt einen wohlgesetzten Satz voraus: „Arzu ist meine Schwester und wird immer meine Schwester bleiben. Ich liebe sie und das wird immer so bleiben.“

Dann tritt ihr altes Leben in den Gerichtssaal und plötzlich ist alles ganz anders: Sirins beste Freundin Beata, eine Kollegin aus der Stadtverwaltung. Die beiden sind fast gleich alt. Seit fünf Jahren innig befreundet. Beide strebsam, beide klug, nur, dass Beata leben darf wie sie will. „Ich weiß, dass Sirin ihre Familie liebt“, sagt Beata. „Aber sie weiß, was gewünscht ist. Dass ein Jeside gewünscht ist.“ Sirin sei nicht immer glücklich gewesen damit. „Das weiß ich“, sagt Beata. Es klingt durch, dass Sirin auch mal einen deutschen Freund hatte. Dass das aber unterbunden wurde. Auch, dass sie Fußball spielte. Das tat sie gern als Mädchen. Dann kommt heraus, dass nicht nur Arzu fliehen wollte, sondern dass auch Sirin kleine Fluchten plante. Beata hatte für Sirin ein Konto eingerichtet, damit nicht all ihr Erspartes in die Familie fließt, in die Hochzeiten der Brüder, den Führerschein der Schwester.

Sirin weint nun. Sie schaut Beata an, Beata schaut sie an. Es sieht aus, als wenn sie um ihr verlorenes Leben weinte. Jenes Leben, von dem sie dachte, sie könnte es führen – trotz ihrer Familie.

Dann erscheint Teresa G., die Mutter von Beata. Sie ist eine warmherzige Frau von 49 Jahren, in Polen geboren, seit vielen Jahren in Deutschland. Sirin, sagt sie, sei eine „intelligente, liebenswerte, tolle Frau“. Sie habe sie wie eine Tochter geliebt. Und sie habe manches nicht verstanden. Sirin habe ihr eigenes Geld verdient, sie habe ausziehen wollen von zu Hause. Aber sie konnte nicht. „Ich sagte immer: Mach doch, du bist doch erwachsen. Aber sie sagte mir, sie wird dann aus der Familie ausgeschlossen. Und sie sagte, sie müsse einen Jesiden heiraten.“

Die beiden Frauen, die Sirin so liebten, bleiben nach ihrer Aussage im Zuschauerraum, sie stehen auf, damit Sirin sie sehen kann, sie nicken ihr aufmunternd zu. Sie halten zu ihr. Ihre eigenen Eltern sind nicht gekommen. „Ich habe ihr oft gesagt: Ich bin stolz auf dich“, sagt Teresa G. später. „Ich habe ihr gesagt: Du lebst im Spagat – modern hier, archaisch in der Familie. Das hältst du nicht aus.“

Vielleicht ist das der Schlüssel zu dieser Tat, die niemand versteht, an der alle, die Sirin kannten, irre werden. Sirin hat den Spagat nicht ausgehalten. Und bevor es sie zerriss, hat sie sich auf eine Seite geschlagen – die ihrer Familie. Als ihre kleine Schwester Arzu einfach all das machte, was sie, die große, kluge sich nicht traute, da wurde sie zur strengsten Tugendwächterin. Mit unüberhörbarer Verachtung berichtet sie vor Gericht, dass sie in Arzus Zimmer einen Schwangerschaftstest gefunden habe – bei einer 18-Jährigen. „Die Kleine war rebellischer als sie“, sagt Teresa G. „Vielleicht hat Sirin sie beneidet.“

Und dann erzählt sie noch eine Kleinigkeit. Sie und Sirin hatten sich für den 1. November um neun Uhr zum Joggen verabredet. Um sieben Uhr morgens kam eine SMS von Sirin. Sie komme gerade von einer Party und sei nun zu müde zum Joggen. War’s schön, simste Teresa zurück. Sehr schön, antwortete Sirin. Da kam sie gerade von der Fahrt zurück, auf der Arzu getötet worden war.

Die Stadt Detmold, bei der Sirin eine große Zukunft hätte haben können, hat nun rechtliche Schritte eingeleitet, um ihr Arbeitsverhältnis zu beenden. Das Urteil des Strafgerichts soll am Mittwoch fallen. Vielleicht muss Sirin lebenslang in Haft, vielleicht werden es unter zehn Jahre. Danach wird sie wohl in ihre Familie zurückkehren. In eine Familie, die ganz klarmacht, dass es nur eines gibt: für sie zu sein oder gegen sie.

Man spürt im Gerichtssaal das Unbehagen der Zeugen, die nur ein, zwei Meter von den Angeklagten entfernt aussagen. Die Cousine, die am Abend vor der Tat bei den Özmens war, kann sich jetzt auch an nichts mehr erinnern. Die kurdische Übersetzerin wurde unter Druck gesetzt. Viele Zeugen betonen, sie sagten nur Gutes – wie zur Beschwörung der Familie. 60 000 Jesiden gibt es in Deutschland. Die Bäckerfamilie Müller gibt zu, dass sie Angst hat. Vor allem wegen Laura, ihrer Tochter. Die war mit Arzu befreundet und hat mir ihr gechattet, als Arzu schon untergetaucht war.

Es ist ein Chat, der vor Gericht verlesen wird. Es geht um ein Lied. Ein Lied, das der Kölner Rapper Eko Fresh allen Opfern von „Ehrenmorden“ gewidmet hat: Ein türkisches Mädchen verliebt sich in Max, einen Deutschen. Ihr Bruder tötet sie und den Freund dazu: „Er klingelte bei Schmitz, die Sister ist ne Bitch. Komm her, du ehrenloses Stück. Und schießt ihr mitten ins Gesicht.“ Richter Reinecke hat sich das Video angeschaut. Mehr als fünf Millionen Mal wurde es angeklickt, auch von Arzu. Sie chattete drei Wochen vor ihrem Tod mit Laura.

Laura: Warum machen die das?

Arzu: Du weißt doch, die Ehre der Familie.

Laura: Die übertreiben.

Arzu: Schaut dir mal Eko Fresh an, über „Ehrenmord“. Wenn ich am Donnerstag nicht gegangen wäre, dann wäre ich auch so gelandet.

Laura: Daran will man aber lieber mal nicht denken.

Arzu: Geht voll unter die Haut, aber das ist die Wahrheit.

Viel Glück, wünscht Laura noch. Kann ich brauchen, sagt Arzu.

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SÜDDEUTSCHE ZEITUNG / SEITE DREI / 19.05.2012

Die Überlebenden 

Ina, Ane, Lars und Frida entkamen Anders Breiviks tödlichen Schüssen auf Utøya. Im Gericht treffen sie den Massenmörder nun wieder. 

Von Annette Ramelsberger

Oslo – Er sitzt da wie eine Puppe, ausgestopft mit Hass. Eine Puppe, die sich nicht regt, die keine Miene verzieht, die aussieht wie tot. Der Scheitel akkurat, jeden Tag. Der Bart sorgfältig rasiert, jeden Tag. Der Massenmörder Anders Behring Breivik ist zur Statue seiner selbst erstarrt.

Dann kommt Ina. Sie hat ein rotes Sommerröckchen an, eine Glasperlenkette um den Hals. Ein Grübchen im Gesicht. Zumindest hält man es für ein Grübchen. Man möchte sie ständig ansehen, sie lächelt, sie strahlt. Da zieht Ina den Ausschnitt ihres T-Shirts herunter – man sieht die Narbe oberhalb des Herzens. Sie krempelt die Ärmel hoch – 40 Zentimeter lang zieht sich der Narbenstrang vom linken Handgelenk bis zum Oberarm. „Danke“, sagt der Staatsanwalt. „Ich hab’ noch eine“, sagt Ina, und hebt ihre vernarbte rechte Hand hoch. „Und die im Gesicht sehen Sie ja selbst.“

„Ich sehe nichts“, sagt der Staatsanwalt. „Ich hab’ mich ja auch ein bisschen hergerichtet“, sagt Ina und strahlt ihn an. Das Grübchen tanzt. „Gutes Make up“, sagt der Staatsanwalt. Alle lachen. Da hebt die junge Frau den Kopf – und man sieht das Einschussloch im Unterkiefer. In der Wange kam die Kugel wieder heraus. Mit Make up sieht es aus wie ein Grübchen.

Viermal hat der Massenmörder Anders Behring Breivik am 22. Juli 2011 auf Ina Rangønes Libak geschossen – sie hatte sich hinter einem Klavier versteckt, als er mordend über die Ferieninsel Utøya zog. Als Ina diese Woche im Gerichtssaal von Oslo stand, war dieser Breivik dann plötzlich ganz unwichtig. Ina würdigte ihn keines Blickes und als die junge Frau sprach, interessierte sich keiner mehr für ihn. Das ist die schlimmste Strafe für ihn.

Wenn es jemanden gibt, der Breivik zeigt, wie armselig er ist, dann ist es Ina Libak. „Als er mich in die Arme traf, dachte ich, das kannst du überleben“, sagt Ina. „Beim Schuss in den Kiefer dachte ich, das ist jetzt ernster. Und als er mich dann in die Brust traf, dachte ich: Das bringt dich um.“ Sie spricht freundlich, sachlich.

In diesen Tagen sagen die Überlebenden von Utøya aus, die Breivik ins Auge geschaut haben, die oft noch Splitter seiner Kugeln im Körper haben, die überlebten, weil er sie für tot hielt. Und sie treten vor Gericht auf mit einer Stärke, einer Tapferkeit, einer Ruhe, der der Angeklagte nicht gewachsen ist. Er sitzt da hinter seiner Fassade aus Gleichgültigkeit, als wäre er innerlich abgestorben. Die Zeugen aber leben. Und sie berichten. Sie schmücken nichts aus. Sie übertreiben nichts – es gibt auch nichts, was man übertreiben könnte.

Viermal ist sie getroffen, dann rennt Ina los. Ihr Mund füllt sich mit Blut, sie stolpert. „Ich versuchte, meinen Kiefer zu halten, damit nichts verrutscht“, sagt sie. „Ich versuchte, mein Blut zu stoppen. Aber ich hatte nicht genug Hände.“ Sie läuft Freunden in die Arme. „Ich bin getroffen, ich sterbe“, sagt sie. Ihre Freunde schleppen sie in den Wald, zu einem Abhang. Sie schmeißen sich auf den Boden. Ein Junge presst Ina die Hand auf die Wunde über dem Herzen, eine Freundin drückt ihr die Armwunde zu. Sie reißen T-Shirts in Streifen und machen ihr mit Steinen Druckverbände. Sie sagen ihr, sie darf nicht aufgeben. Sie gehören zusammen. Sie halten zusammen.

Dann hören sie ihn. Ihn und sein Gewehr. Er kommt direkt auf sie zu. Es ist alles sehr licht auf Utøya, es gibt kaum Verstecke, wenig Unterholz. Man kann sie sehen, er muss sie jetzt jeden Moment sehen. Ina holt tief Luft. „Und keiner meiner Freunde rannte weg“, sagt Ina. „Sie sind bei mir geblieben.“ Eine Sekunde vor dem Moment, als Breivik sie sehen muss, dreht er den Kopf und blickt in die andere Richtung.

Auch im Gerichtssaal schaut Breivik Ina nicht an, er schaut ins Leere, so wie seit Beginn des Prozesses. Wenn er Ina ansehen würde, könnte er erkennen, wie abgrundtief er gescheitert ist. Da steht eine starke Frau. Natürlich hat sie Albträume, natürlich kann sie schlecht schlafen. Aber sie hat ihr Studium fortgesetzt, sie will Umweltingenieurin werden – trotz allem. Sie steht kurz vor dem Examen. Sie engagiert sich noch mehr in der Arbeiterpartei. „Wir in der AUF (der Jugend der Arbeiterpartei) sind nun stärker als je“, sagt sie. Sie lacht. Sie freut sich auf die Zukunft. Das Grübchen, das kein Grübchen ist, tanzt. Der Saal ist verzaubert. Hier steht eine Überlebende, die den Hass weglacht. „Sie haben eine überdurchschnittlich positive Lebenseinstellung“, sagt der Staatsanwalt und lächelt. Der Verteidiger von Breivik meldet sich zu Wort. Der Mann, der Breivik gewissenhaft vertritt, der stets für seine Wünsche eintritt, hat eine ganz raue Stimme, als er Ina anerkennend zunickt und sagt: „Großartige Erklärung“.

In dieser Woche feierten die Norweger ihren Nationalfeiertag, am 17. Mai. Den ersten nach den Attentaten. Ein Tag, an dem sie in traditionellen Kostümen durch die Straßen ziehen. Ein Tag der Freude. Der Selbstvergewisserung. Sie haben auf das Herz aus Blumen vor dem Dom, das dort noch immer an die Opfer Breiviks erinnert, norwegische Fähnchen gesteckt. Und sie stecken Blumen in die Sperrholzwand vor dem Regierungskomplex, der nach der Bombenexplosion noch renoviert wird. In den Wochen davor haben alle vor Gericht geweint, selbst die Richterin. Als es um die Toten ging, um die jungen Menschen, denen Breivik in den Kopf geschossen hat, immer dreimal, um sicher zu gehen. In dieser Woche kommen die Überlebenden zu Wort. Es ist wie ein Aufatmen.

Keiner wird alleingelassen. Die Kinder, die aussagen, werden von ihren Eltern begleitet, von den Geschwistern. Sie sitzen im Zuschauerraum und hören zu. Familie Evenmo ist aus der Nähe von Tromsø ganz im Norden gekommen. Vater Solvar Evenmo ist Panzermechaniker bei der Armee, er war schon dreimal in Afghanistan, Mutter Marte Kollen Evenmo ist Lehrerin. Neben ihnen sitzt ihre Tochter Ane, 17 erst, ein „Afterklappen“, sagt ihre Mutter liebevoll, eine Nachzüglerin.

Vor ihrer Aussage spielt Ane nervös mit ihrem Handy, mintgrün, presst ihre Fingernägel aneinander, ebenfalls mintgrün. „Wir müssen vorsichtig sein mit ihr. Sie ist schnell aufbrausend“, sagt die Mutter. Ane ist noch nicht drüber weg.

Aber sie hat etwas Handfestes, einen Sinn fürs Praktische. Ane erzählt, wie sie sich gerade im Verpflegungszelt ein Sandwich geschmiert hat, als sie die Schüsse hörte. Wie sie losrannte, wie sie einen Schmerz im Bein spürte. Und ihre Freunde fragte: Ist das Dreck an meinem Stiefel oder ein Loch? Es war ein Loch.

Bei diesen Worten legt Vater Evenmo wie beiläufig die Hand auf die Schulter seiner Frau.

Ane erzählt, wie sie mit der Kugel im Bein zum Ufer lief. Wie sie versuchte, mit zehn, zwanzig anderen im eiskalten Wasser zu schwimmen. Und es nicht ging. Wie sie mit einem Jungen zu einem Boot lief und zu den anderen ruderte, um sie zu retten. Und wie dann ein Mann in Polizeiuniform vom Ufer aus auf das Boot anlegte. Es war Breivik.

Jetzt legt Vater Evenmo seiner Frau seinen Arm um die Schulter. Nicht fest, nur so viel, dass sie spürt, dass da sein Arm ist.

Und die Tochter erzählt: „Er war ganz ohne Eile. Ich dachte, wie jemand so ruhig sein kann, während er so etwas Schreckliches tut. Wir pressten uns flach ins Boot, mit dem Kopf zum Ufer. Und warteten. Dieser Moment dauerte sehr lange, eine Ewigkeit. Dann hörte ich einen lauten Knall. Wie Metall gegen Metall. Ich dachte, mein Kopf ist getroffen.“ Ane war nicht getroffen, die Kugel war an der Wand des Bootes abgeprallt. Ane konnte noch denken. Und sie dachte praktisch. „Wir sollten uns lieber umdrehen im Boot. Besser wir bekommen eine Kugel in die Füße als in den Kopf.“

Vater Evenmo kriegt jetzt rote Augen.

Ane und die anderen schaffen es, ans Festland zu rudern. Und sehen schon wieder Polizisten. Erst hat ein Mann in Polizeiuniform versucht sie umzubringen, jetzt bringen das die anderen zu Ende, denken sie. Ein Junge gerät in Panik. „Ich komme aus Afghanistan, die Polizei ist korrupt“, schreit er und will aus dem Boot springen. Ane hält ihn fest. „Mein Vater war in Afghanistan“, sagt sie. „Du hast recht, die Polizei ist korrupt in Afghanistan. Aber wir sind in Norwegen.“

Vater Evenmo zwinkert ein bisschen mit den Augen. Er schaut seine Tochter an. Nicht den Angeklagten. Dabei sitzt der nur ein paar Meter entfernt. „Er ist es nicht wert, an ihn zu denken. Wir haben schon viel zu viele Gedanken an ihn verschwendet“, sagt Mutter Evenmo. Manchmal, sagt sie später, kommen Gefühle auf in ihr, da würde sie Breivik am liebsten den Hals umdrehen. „Aber das bleibt da drin“, sagt sie und zeigt auf ihre Brust.

Es ist dieser unbedingte Wille, sich nicht aus der Bahn werfen zu lassen, der so eindrucksvoll ist. Da ist der Junge mit den verstrubbelten Haaren, der über zwei Stunden mit einem Lungensteckschuss unter einem Baum lag. Der sich das Gesicht mit Schlamm einschmierte, damit er nicht entdeckt wurde. Der sah, wie das Blut aus seinen Fingern verschwand, der keine Luft mehr bekam. Im Krankenhaus sagten sie: 15 Minuten später und er hätte nicht überlebt. Der Junge heißt Lars Grønnestad, er ist 20. Er hat angefangen zu studieren. Obwohl er noch immer wenig Luft bekommt. „Ich habe etwas Neues angefangen. Ich habe eine neue Clique. Ich will nicht nur der Typ sein, der überlebte.“

Überleben ist schön, aber ganz schön schwierig. Da sind die drei, die unter den Leichen ihrer toten Freunde überlebt haben – in dem Raum mit dem Klavier, aus dem Ina gerade noch flüchten konnte. Und die sich nun Vorwürfe machen, dass sie leben. Oder der Junge, der mit seinem besten Freund vor Breivik davon lief, eine Klippe hinunter kletterte und zusehen musste, wie sein Freund abstürzte. Oder Glenn Martin Waldenstrøm, der in den Hals getroffen wurde und fast erstickte. Und sich doch nur Vorwürfe macht, warum er seine Freundin nicht retten konnte. Als er gefunden wurde, schrieb er die Handynummer seiner Mutter auf den Boden – mit seinem eigenen Blut. Er konnte ja nicht mehr sprechen. „Was ich noch sagen will“, sagt er ganz zum Schluss vor Gericht, „Breivik sprach bei seinen Vernehmungen von einem Jungen, der aus dem Hals blutete und den er für tot hielt. Dieser Junge war ich. Es ist ein gutes Gefühl: Ich hab’ ihn reingelegt.“

Breivik sitzt in diesem sehr intimen Gerichtssaal nur ein paar Meter entfernt von denen, die er töten wollte. Er will ihnen nun nichts mehr, es ging ja nicht darum, sie als Menschen zu vernichten, es ging ihm ja nur um Aufmerksamkeit für sein rechtsradikales Manifest. Er provoziert sie nicht. Er geht ohne Murren in ein Nebenzimmer, wenn es ein Zeuge verlangt. Er lässt sich ohne Umstände die Hände fesseln. Hellwach ist er nur, wenn es um ihn geht. Er will weiter seine Ideologie verbreiten. Er will ins Fernsehen – ganz: „Es ist nicht zu akzeptieren, dass meine ideologische Erklärung bei der Fernsehübertragung zensiert wurde, aber die Psychiater vollständig übertragen werden sollen“, sagt er ruhig. „Das ist nicht ausgeglichen. Das würde mich als verrückt darstellen.“ Das interessiert ihn.

Da kommt Frida, ein Mädchen wie aus einer norwegischen Saga. Sie trägt einen Margeritenkranz im langen roten Haar. Klein, schmal, zierlich wie ein Kind. Dieses Kind hat eine Stunde lang im eiskalten Wasser des Fjords überlebt. Sie will, dass Breivik den Saal verlässt.

Frida Holm Skoglund ist 20, sie wurde von einer Kugel in den Oberschenkel getroffen. Dennoch rennt sie zum Ufer, steigt ins Wasser. Da bekommt sie einen Anruf ihrer Mutter, sie sagt nur: „Ich gehe jetzt in den See, ich bin getroffen.“ Die Mutter versteht nichts. Breivik steht schon am Ufer. Und Frida schwimmt um ihr Leben. „Stop, kommt zurück“, ruft Breivik. Dann treffen Kugeln auf das Wasser neben Fridas Kopf. Sie gerät in Panik. Der Oberschenkel brennt. Sie kann ihr Knie nicht mehr bewegen. Sie schwimmt weiter. Und sie kann nicht mehr atmen. Eine Asthma-Attacke. Sie schwimmt weiter. Sie hat Angst. Es würgt sie. Sie schwimmt weiter.

Der Staatsanwalt fragt: „Wie lang warst du im Wasser?“

„Mehr als eine Stunde“, sagt Frida.

Der Staatsanwalt fragt: „Wie geht es dir heute?“

Es ist ein Ritual. Erst dürfen die Zeugen erzählen, was sie erlebt haben. Dann kommen die Nachfragen. Und am Schluss geht es um ihr Leben nach dem Attentat. Wie es sich verändert hat.

„Es war schwierig“, sagt sie. Frida hat eine Infektion in beiden Hüften bekommen. Sie schmerzen noch immer. „Es war ziemlich schwer, wirklich“, sagt sie und lächelt ein bisschen. Und dann die Schuldgefühle.

„Schuldgefühle – weswegen?“, fragt der Staatsanwalt.

Sie schluckt. „Ich war die Anführerin der Delegation meines Heimatbezirks. Ich habe die drei Jüngsten verloren.“

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SÜDDEUTSCHE ZEITUNG / SEITE DREI / 05.10.2012

Die Zerstörung

Ein Lehrer wird von seiner Kollegin beschuldigt, sie vergewaltigt zu haben.
Der Mann geht für Jahre ins Gefängnis. Dabei war alles frei erfunden

VON ANNETTE RAMELSBERGER 

Wald-Michelbach – Hoch liegt der kleine Friedhof über den Tälern des Odenwalds, steil führt die Straße hinauf zur schlichten Kirche. Die alte Frau kommt ganz in Schwarz. Sie drückt die Klinke des Eisentors zum Friedhof, geht zwei Schritte hinein. Dort vorn liegt das Grab. Da tastet sie plötzlich nach dem Arm neben sich, stützt sich ab, wankt. Man spürt durch ihren schwarzen Mantel, dass sie zittert. Sie hält sich fest, dann drückt sie den Rücken durch und entschuldigt sich für ihre Schwäche: „Ich halte es immer noch nicht aus, das zu sehen. Ich kann es einfach nicht glauben.“

Dann geht sie voran, zu dem Grab, wo seit dem Jahr 2006 ihr Mann liegt. Und seit drei Monaten ihr Sohn. Horst Arnold steht auf dem Holzkreuz, das noch lose in der Erde steckt, geboren am 24. Mai 1959, gestorben am 29. Juni 2012. Er ist nur 53 Jahre alt geworden.

Helga Arnold, die Mutter, stellt frische Blumen aufs Grab. Sie nickt ein paar Besuchern zu, die sie scheu grüßen, diese kleine weißhaarige Frau. Viele können nicht glauben, was Helga Arnold und ihrem Sohn zugestoßen ist. Oder besser: Was ihnen angetan wurde. Von der deutschen Justiz, und einer Frau, die sich dieser Justiz bediente.

Zu Hause bei Helga Arnold ist es ganz still, keine Musik, kein Radio. Früher hörte sie gerne HR 4, einen Schlagersender mit vielen Neuigkeiten aus der Region. Aber sie kann die Taste am Radio nicht mehr drücken. „Dann denke ich immer dran, wie mein Mann und ich beim Essen saßen, und die Nachricht kam.“ Die Nachricht, dass an der Schule, an der ihr Sohn Biologie und Sport unterrichtete, eine Lehrerin vergewaltigt worden war.

Erst haben sie noch weitergegessen, dann erstarrten sie. Helga Arnold sagt: „Da kam der Anruf: Es soll unser Horst gewesen sein.“ Und dass ihr Horst es gewesen ist, war schon bald keine Frage mehr. Das Landgericht Darmstadt verurteilte Horst Arnold im Juni 2002 zu fünf Jahren Haft. Er hatte, so befanden die Richter, seine Kollegin Heidi K. in einer Unterrichtspause mitten in der Schule vergewaltigt. Die Frau sei traumatisiert.

Arnold bekam keine Hafterleichterungen, keinen Ausgang, keinen Urlaub übers Wochenende, er durfte nicht wie andere Ersttäter nach zwei Dritteln der Strafe auf Bewährung raus. Denn er galt als ganz besonders verstockter Täter. Er gab die Tat nie zu, er bereute nicht. Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Darmstadt schrieb am 9. März 2005: „Der Verurteilte war zu keinem Zeitpunkt zu bewegen, seine Straftat einzuräumen und damit den Ansatzpunkt für eine Aufarbeitung zu bieten.“

Aschbach, wo Helga Arnold wohnt, gehört zu dem Städtchen WaldMichelbach, es ist eine enge, waldige Gegend. Jeder kennt jeden. Alle wissen von allem. Der Vater ging bald nicht mehr zum Männerchor, die Mutter nicht mehr zum Gottesdienst, obwohl sie, „das dürfen Sie mir glauben“, sehr gläubig ist. Sie spürten die Blicke, hörten das Tuscheln. Helga Arnold atmet tief durch. „Jeder deutete auf uns. Wir haben uns zurückgezogen wie die Schnecke ins Schneckenhaus.“

Jeden Dienstag besuchten Helga Arnold und ihr damals schon schwer kranker Mann den Sohn in der Haft. Und einmal, die Mutter erinnert sich noch genau, als dreieinhalb Jahre um waren, da war ihr Sohn sehr aufgewühlt. „Stellt euch vor, die wollen mich erpressen“, sagte er seinen Eltern. „Wenn ich heute gestehe, dass ich es war, dann darf ich morgen raus.“ Arnolds Vater hatte da schon eine lange Chemotherapie hinter sich, er spürte, dass seine Kräfte schwanden. Und er bat seinen Sohn, den einfachen Weg zu gehen. „Ich bin doch so krank, komm doch heim, hat mein Mann gesagt.“ Helga Arnold hat ihren Mann sehr geliebt. Und sie hat seinen Wunsch gut verstanden. „Aber da kennen Sie meinen Sohn schlecht. Das war für ihn ganz unmöglich. Das ging ihm gegen die Ehre.“

Horst Arnold kam erst am 2. Oktober des Jahres 2006 frei, keinen Tag vor der Zeit. Sein Vater holte ihn von der Haftanstalt ab. Mit letzter Kraft. Es war das letzte Mal, dass er außer Haus ging. Kurz darauf starb er.

Es war um diese Zeit, als die Frauenbeauftragte des Schulamts für die Landkreise Bergstraße und Odenwald ins Grübeln kam. Anja Keinath ist eine erfahrene Lehrerin, eine, bei der immer ein Pott Roibuschtee dampft, bei der Stofftiere im Amtszimmer stehen, mit denen Kinder spielen, wenn sie sich um deren Mütter kümmert. Aber damals trieb Anja Keinath etwas um. Etwas, das sie kaum auszusprechen wagte. Es ging um ihre Kollegin Heidi K.

Anja Keinath kannte Heidi K. seit dem Prozess gegen Horst Arnold. Sie hatte sie beruhigt, als sie immer wieder aufgewühlt rausrannte aus dem Gerichtssaal, hatte sie getröstet. Nach dem Prozess blieb der Kontakt. „Wir haben uns immer gefreut, wenn wir uns gesehen haben“, erzählt Anja Keinath, mittlerweile 61. Heidi K., 13 Jahre jünger, sei eine offene, lebhafte, sympathische Frau – trotz der vielen Schicksalsschläge, von denen sie erzählt hatte. Keinath fühlte sich fast wie eine große Schwester für die Jüngere verantwortlich.

Heidi K. erzählte der Frauenbeauftragten vieles: Dass sie sich nach Nordhessen versetzen lassen wolle, weil ihr Lebensgefährte sie dort brauche. Der sei Polizist und bei einem geheimen Anti-Terror-Einsatz von einer Kugel in den Kopf getroffen worden. Ein ganzes Jahr sei er im Koma gelegen. Sie habe ihm wieder Sprechen und Laufen beigebracht. So ging eine Geschichte.

Dann aber bekam Heidi K. eine Stelle in Südhessen – und als Anja Keinath sich verwundert erkundigte, was denn aus ihren Umzugsplänen in den Norden geworden sei, sagte K. nur kurz, ihr Lebensgefährte sei gestorben. „Noch nie habe ich eine Todesmitteilung so beiläufig erfahren“, sagt Keinath heute. Sie schüttelt sich immer noch ein bisschen, wenn sie daran denkt. Kaum hatte Heidi K. die Stelle in Südhessen angetreten, gab es eine neue Geschichte: Man habe sie vergiftet. Mit Arsen. Und sie wisse auch, warum. An der Schule feiere ein Lehrer Orgien mit den Schülern, der Rektor lasse das zu, sie sei die Einzige, die sich dagegen wehre. Und es gebe da einen Pädophilenring.

Dann begeht ein Polizist aus der Gegend Selbstmord. Und Heidi K. liefert wieder eine Geschichte. Der Beamte sei heimtückisch ermordet worden, weil er dem Pädophilenring an ihrer Schule auf der Spur gewesen sei, sagt Heidi K. zu Anja Keinath. Und weil er in ihrer Vergiftungssache ermittelt habe. Deswegen habe er sterben müssen. Doch Anja Keinath weiß: Der Polizist hat sich aus Liebeskummer getötet, er wurde nicht umgebracht. Aber Heidi K. ist nicht von ihrer Mordgeschichte abzubringen. Da keimt in Anja Keinath ein furchtbarer Verdacht.

Sie schaut in ihrem alten Kalender nach, dem von 2001. Da hat sie Heidi K. bei einem Lehrerinnen-Stammtisch zum ersten Mal getroffen. Sie kann sich noch erinnern. Es ging lustig zu und besonders lustig dort, wo Heidi K. saß. Der Frauenstammtisch aber, so rekonstruierte sie, hatte genau einen Tag nach jener Vergewaltigung stattgefunden, wegen der Horst Arnold verurteilt worden war.

„Da hat sich bei mir alles zusammengezogen“, sagt Keinath. Immer wieder war ihr etwas eigenartig vorgekommen an K.s Erzählungen, immer wieder hatte sie gestutzt. Immer hatte sie die Zweifel verdrängt. Doch nun bohrte in ihr ein Gedanke: Dass dieVergewaltigung, für die Horst Arnold im Gefängnis gesessen hatte, vielleicht nie stattgefunden hatte.

Anja Keinath ist Lehrerin, nie hatte sie etwas mit Polizei und Staatsanwaltschaft zu tun. Aber Keinath hat auch einen Bruder, und dieser Bruder ist Rechtsanwalt in Berlin. Kanzlei Hartmut Lierow, prächtiger Berliner Altbau, Beletage mit Marmor und Stuck. Als Lierow im Herbst 2007 die Geschichte hört, die seine Schwester ihm erzählt, macht er sich erst mal Sorgen – um seine Schwester. Wenn ausgerechnet die Frauenbeauftragte des Schulamts eine vergewaltigte Lehrerin der Lüge bezichtige, dann könne das Konsequenzen haben. Beruflich, aber auch zivilrechtlich. Bis hin zu Schadenersatzklagen. „Doch meine Schwester sagte mir, sie werde sich lebenslang Vorwürfe machen, wenn sich eines Tages herausstelle, Herr Arnold habe sich umgebracht oder Frau K. werde noch weiteres Unheil anrichten“, sagt Lierow.

Also hilft der Anwalt seiner Schwester. Und bringt Horst Arnold und seine Mutter damit an den Rand der Verzweiflung. „Da ruft dieser Anwalt aus Berlin an“, sagt Helga Arnold, „ein paar Tage nach der Beerdigung meines Mannes. Der Horst und ich, wir haben beide gezittert. Und ich habe geweint: Wer will uns da schon wieder etwas antun?“ Dass jemand ihnen etwas Gutes antun will, daran dachten sie nicht mehr.

Lierow fährt zu den ehemaligen Verteidigern Arnolds, die nicht sonderlich interessiert sind an den neuen Erkenntnissen. Er besorgt sich die Akten. Er geht sie Seite für Seite, Satz für Satz durch. Und er erkennt: Das Urteil gegen Horst Arnold basiert vor allem auf einer Aussage: der von Heidi K.

Die zuständige Strafkammer des Landgerichts Darmstadt ist nie am Tatort in der Schule gewesen, die Richter haben nie die Tat nachstellen lassen, es gibt keine DNA-Spuren.Es gibt auch niemand, der Heidi K. schreien hörte im Schulgebäude, trotz der offenen Fenster, oder der sie wegrennen sah. Und die Ärztinnen, die sie untersuchten, konnten keine für eine Vergewaltigung typischen Verletzungen feststellen, nur ein paar blaue Flecken und ein paar Kratzer am Bauch. Dabei hatte sie angegeben, der Vergewaltiger habe ihr gewaltsam den Mund zugehalten, ihr in den Rücken geboxt und sie anal penetriert.

Die Pause dauerte nur 15 Minuten, vier Minuten brauchte die Lehrerin allein vom Ort der angeblichen Vergewaltigung bis zu ihrem Klassenzimmer. In elf Minuten soll ein Gespräch, ein Kampf, eine Vergewaltigung passiert sein. In diesen elf Minuten will sich dieLehrerin auch noch im Hof erbrochen und in Büschen versteckt haben. Erbrochenes wurde nirgends gefunden. Und in der Klasse erschien sie rechtzeitig und makellos – keine roten Flecken im Gesicht, kein derangierter Rock. Danach hielt sie noch zwei Stunden Unterricht. Zwei Tage später musste sie wegen der anstehenden Verbeamtung zur Amtsärztin und gab an, völlig beschwerdefrei zu sein. Aber vor Gericht saß dann eine weinende, aufgewühlte Frau. Ihr glaubten die Richter.

Es gab viele, denen Horst Arnold nicht wirklich leid tat. Arnold schnitt gern auf, er überschätzte sich. Dazu hatte er Schlag bei Frauen, das ließ er auch gerne wissen. Und er trank zu viel. Wenn er getrunken hatte, konnte er sich auch ziemlich danebenbenehmen. Man wollte ihn an seiner Schule gern loswerden. Und möglicherweise war man gar nicht so unglücklich darüber, dass sich der Fall nun auf diese Weise erledigt hatte. Auf jeden Fall war Arnold weg.

Und er kam auch nie wieder. Nach seiner Entlassung bemühte er sich fünf Jahre lang, wieder eine Stelle zu bekommen, irgendwo an einer Schule, als Hausaufgabenaufsicht, als Aushilfslehrer. Immer, wenn er sagte, er sei wegen Vergewaltigung in Haft gesessen, wollte man ihn nicht mehr haben. Er schrieb Hunderte Bewerbungen. Und lebte dann von Hartz IV.

Als Anwalt Lierow anruft, ist Horst Arnold psychisch schwer angeschlagen. Und der Anwalt weiß auch: So schnell wird das nicht besser werden. Mindestens drei Jahre dauert ein Wiederaufnahmeverfahren. Im Fall Arnold dauerte es vier – allein dieStaatsanwaltschaft Darmstadt saß neun Monate lang auf den Akten, ohne sie an das zuständige Gericht weiterzuleiten. Und dann die Zeugen: Lierow musste Lehrer überzeugen, dass es ihnen keine Nachteile bringt, wenn sie vor Gericht aussagen. Er musste lästig sein, immer wieder anrufen, dass sie sich endlich eine Aussagegenehmigung besorgen. Und er wunderte sich, wie viel stärker als Logik und Anstand die Behäbigkeit derer ist, die einfach keinen Ärger haben wollen. Egal, ob ein Mensch unschuldig verurteilt wurde.

Am 5. Juli 2011 sprach das Landgericht Kassel den verurteilten Horst Arnold frei – nicht wegen Mangel an Beweisen, sondern wegen erwiesener Unschuld. Die Vorwürfe seiner Kollegin gegen ihn seien von vorne bis hinten erfunden. „Sie war in der Lage, dieaberwitzigsten Geschichten zu erfinden“, erklärte der Vorsitzende Richter.

Schon 2008 hatte Anwalt Lierow Anzeige wegen Freiheitsberaubung gegen Heidi K. gestellt. Die Staatsanwaltschaft Darmstadt ließ sich für die Ermittlungen ganze vier Jahre Zeit – dabei wimmelt es nur so an Zeugen für die bizarren Erzählungen der Lehrerin. Was Anwalt Lierow zusammengetragen hat, liest sich wie ein Zusammenschnitt aus „Tatort“, Mankell und Donna Leon – in einer deutschen Schule.

Heidi K. habe ohne Grund behauptet, dass Schülerinnen sexuell missbraucht worden seien und die Eltern mit diesen Vorwürfen konfrontiert, beschwerte sich die Realschule Heepen schon 2001 beim Schulamt: „Durch Frau K.s Fehlverhalten ist der schulische Frieden erheblich gestört.“

Monatelang gab Heidi K. vor, an einer lebensbedrohlichen Krebserkrankung zu leiden und erschien nicht zum Dienst. In einem Gymnasium beschuldigte K. einen altgedienten Lehrer, er sei ein Spanner und schaue in die Duschkabinen der Schülerinnen.

Einem anderen warf sie vor, den Mädchen unter die Röcke zu sehen.

Einer Personalrätin erzählte sie, ihre kleine Tochter sei bei einem Autounfall getötet worden. Sie hatte nie eine Tochter.

Der Schulsekretärin erzählte sie nach den großen Ferien, durch die angebliche Vergiftung seien ihr alle Haare ausgefallen. „Aber sie hatte die Haare doch bis auf die Schultern“, sagt die Sekretärin. „So schnell können Haare gar nicht wachsen.“

Einmal sollte sie einen Schulausflug mit ihrer Klasse machen. Sie sagte ihn ab. Das Schullandheim habe einen Wasserrohrbruch, erklärte sie der Klasse. Dem Schullandheim schrieb sie, in der Klasse seien zwei Meningitisfälle aufgetreten. Als der Schwindel aufflog, war sie schon an der nächsten Schule.

Und ihr Freund, der tote Polizist? Heidi K. hat einen Bekannten, der Polizist ist. Aber der war nie bei einem Terroreinsatz, wurde nicht in den Kopf geschossen und ist auch nicht gestorben.

Horst Arnold, der Mann, der fünf Jahre in Haft saß, der sein Haus verloren hat und seine Habe, ist ins Saarland gezogen, in eine kleine Wohnung, wo ihn niemand kennt. Er hat noch keinen einzigen Cent an Entschädigung für die Haft erhalten, es fühlt sich auch niemand zuständig, ihm zu helfen. „Wir waren erst so glücklich über den Freispruch“, sagt seine Mutter, „aber nach einem Vierteljahr hat sich das gegeben. Es wurde ja nichts besser.“ Ihr Sohn hat Selbstmordgedanken, ist in psychologischer Behandlung. Sein Arzt schreibt: „Der Patient erlebt multiple, serielle und permanente Enttäuschungen im Alltag. Trotzdem hat er sich nicht von der Gesellschaft abgewendet. Er versucht, sich unermüdlich und permanent ins Arbeitsleben zu integrieren.“ Dennoch habe sich seiner eine tiefe Verzweiflung mit lebensmüden Gedanken bemächtigt. „Der Patient hatte bisher einen extrem langen Leidensweg.“

Am 27. Juni 2012, ein Jahr nach dem Freispruch und vier Jahre nach der Anzeige durch Anwalt Lierow, hat die Staatsanwaltschaft die Anklage gegen Heidi K. fertig. Sie wirft ihr Freiheitsberaubung vor. Alles andere ist verjährt.

Zwei Tage später fährt Horst Arnold morgens mit dem Fahrrad zum Supermarkt. Er hat immer noch keine Arbeit. Er kauft zwei Liter Milch, Mineralwasser und Zigaretten. Keinen Alkohol. Er ist abstinent. Als er um neun Uhr nicht bei seiner Mutter anruft wie jeden Tag, macht sie sich Sorgen. Sie spürt, dass etwas nicht stimmt.

Da liegt Horst Arnold schon auf der Straße. Vom Rad gestürzt. Tot. Er hat einen Herzschlag erlitten.

Horst Arnold wurde auf dem Friedhof von Aschbach beerdigt, nur ein paar hundert Meter vom Haus seiner Mutter entfernt. Zu seiner Beerdigung kamen auch einige alte Kollegen. Einer nach dem anderen trat an Helga Arnold heran und sagte, er habe das nie geglaubt, dass der Horst ein Vergewaltiger sei. Frau Arnold musste sehr an sich halten, um nicht zu sagen: „Das hätte Ihnen früher einfallen können.“ Sie hat sich auf die Lippen gebissen.

Auch Anja Keinath und ihr Bruder Hartmut Lierow waren bei der Beerdigung. „Es war furchtbar“, sagt Keinath. „Da war diese trauernde Mutter. Es ist das Schlimmste, wenn eine Mutter ihr Kind leiden sieht und nicht helfen kann. Ich hätte so gewünscht, dass Horst Arnold wieder Fuß fasst im Leben.“ Jetzt wünscht sich Anja Keinath nur noch zu verstehen, was ihre Kollegin Heidi getrieben hat. „Wie ist es gekommen, dass sie ein Menschenleben zerstört hat?“

In dem Wiederaufnahmeprozess, in dem Horst Arnold freigesprochen wurde, hat sich Heidi K. nicht geäußert. Schriftlich erklärte sie: „Ich erinnere mich vage daran, dass es richtig ist, dass ich verschiedenen Leuten ,Geschichten‘ erzählt habe. Ich hatte das Gefühl, einsam zu sein und jemanden zu brauchen, der mich in den Arm nimmt . . . Im Kern hängt das alles jedoch mit der erlittenen Vergewaltigung zusammen. . . Zu keinem Zeitpunkt habe ich fälschlicherweise andere Personen einer Straftat verdächtigt.“

Anja Keinath spürt noch immer einen Rest von Loyalität zu der Kollegin. „Ich habe das Bedürfnis, sie nicht als durch und durch verdorbenen Menschen zu sehen.“ Sie hat nur noch eine Angst – dass die Hintergründe dieses Dramas nie erhellt werden.

„Mir geht es nicht darum, dass sie ins Gefängnis kommt, das macht den Herrn Arnold ja nicht wieder lebendig“, sagt Keinath. „Aber wenn das nicht aufgeklärt wird, und es wächst Gras über die Sache, dann macht sie das vielleicht wieder.“

Schon seit Juli denkt das Landgericht Darmstadt darüber nach, ob es den Prozess gegen Heidi K. eröffnet. Es ist keine Eilsache, niemand sitzt in Haft. Die Lehrerin ist mittlerweile 48 Jahre alt, sie ist vom Dienst suspendiert, bekommt nur noch die Hälfte ihrer Bezüge.

Helga Arnold sitzt in ihrem Wohnzimmer, Orchideen auf dem Fensterbrett, Rosenthal-Sammelteller an den Wänden. Auf der Anrichte ein Bild von ihrem Sohn. „Wie der liebe Gott mir das mal erklärt, warum er mir so viel abverlangt“, sagt sie. Ihren Glauben an Gott hat sie nie verloren, den an die irdische Gerechtigkeit schon. Nie, sagt sie, habe sich irgendjemand von der Justiz bei ihr gemeldet. Und nie, sagt sie, habe irgendwer um Entschuldigung gebeten.

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SÜDDEUTSCHE ZEITUNG / SEITE DREI / 14.03.2014

München, 14.09 Uhr

Ein Angeklagter, ein Richter – ein Urteil.
Uli Hoeneß, Rupert Heindl und das Finale im Justizpalast

VON ANNETTE RAMELSBERGER 

Er kommt über den mit dunklen Planen abgeschotteten Gang im Justizpalast am Münchner Stachus, einem neobarocken Bau voller Schnörkel und Säulen. Er geht an der Bronzestatue von Prinzregent Luitpold vorbei, der dieses Gericht erbauen ließ. Er steigt die fünf Marmorstufen hinauf in diesen Saal, in dem über sein Schicksal entschieden wird. Und dann hört er es: „Im Namen des Volkes, der Angeklagte wird wegen Steuerhinterziehung zu drei Jahren und sechs Monaten verurteilt.“

Drei Jahre und sechs Monate. Das bedeutet: Haft.

Der Haftbefehl gegen ihn wird nicht aufgehoben, aber er bleibt bis zur Klärung vor dem Bundesgerichtshof außer Vollzug. Uli Hoeneß kann reisen, auch zum Champions-League-Finale nach Lissabon, falls die Bayern es erreichen. Aber auch dort wird er nicht mehr der sein, der er war.

Hoeneß klammert sich an die Lehne seines Stuhls, seine Kiefer mahlen, sein Mund zuckt. Er beißt sich auf die Lippen. An ihrem Platz in der vordersten Reihe erstarrt Susi Hoeneß, seine Ehefrau seit

42 Jahren. Den ganzen Tag hatte sie ihren Mann nicht aus den Augen gelassen, er hatte ihren Blick gesucht und sie den seinen. Schon nach den Plädoyers hatte Uli Hoeneß fast hilfesuchend seine Hand nach ihr ausgestreckt, hatte ihren Arm genommen und war mit ihr dann sofort aus dem Saal verschwunden.

Nun, da das Urteil gefallen ist, geht sie langsam auf ihn zu, wie in Zeitlupe, als warte sie, wie er reagiert. Er sitzt noch immer. Wie versteinert. Als wenn er nicht begreifen würde, was gerade geschah. Langsam lösen sich seine Züge. Dann geht er ganz schnell hinaus, seine Frau hinterher. Sein Verteidiger Hanns Feigen bleibt in der Tür stehen und sagt nur noch, natürlich werde man dieses Urteil anfechten. An diesem Freitag ist Feigens 65. Geburtstag. Er hatte nicht damit gerechnet, ihn mit einer solchen Niederlage zu begehen.

Und Hoeneß hatte offenbar nicht damit gerechnet, dass dieses Urteil so ausfällt. Und auch nicht damit, was ihm dieser Richter nun sagt.

Richter Rupert Heindl sagt, Hoeneß berufe sich darauf, „die Bank habe quasi alles von alleine gemacht, das nehmen wir Ihnen nicht ab.“ Der Richter sagt, auch seine Selbstanzeige sei „keineswegs aus freien Stücken erfolgt, wie Sie vielleicht noch selbst glauben“.

Und dann kommt vom Richter eine ganze Litanei an Vorwürfen: „Sie hatten viele Jahre Zeit. Sie haben es nicht getan, Sie haben auf Zeit gespielt. Das Steuerabkommen mit der Schweiz wäre eine Chance gewesen, doch neben diesem Weg wäre Ihnen der Weg der strafbefreienden Selbstanzeige jederzeit offengestanden.“ Plötzlich habe es dann ganz schnell gehen müssen. „Das ist keine missglückte Selbstanzeige, sondern eine erkennbar unzureichende Selbstanzeige“, sagt der Richter. „Keiner hätte mit den Unterlagen, die Herr Hoeneß im Januar 2013 hatte, eine wirksame Selbstanzeige machen können.“ Und, so betont der Richter: „Damit geht der Ball wieder ins Spielfeld von Herrn Hoeneß und nicht ins Feld der Steuerberater. Sie hatten nicht alles, was Sie brauchten und haben es trotzdem riskiert.“

In Hoeneß und seinem Richter Heindl treffen zwei Männer aufeinander, die beide vor Selbstbewusstsein strotzen.

Uli Hoeneß, 62, Fußball-Legende, Berater der Kanzlerin, Freund des ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, geschätzter Geschäftspartner von Allianz, Adidas, Audi.

Rupert Heindl, 47, Vorsitzender Richter der Wirtschaftsstrafkammer am Landgericht München II. Ein großer, kahlköpfiger Mann mit tiefer Stimme von altbayerischem Klang. Er pocht auf seine Spielregeln, hier im Gerichtssaal, denn das hier ist sein Spielfeld. Er macht mit jedem Satz und mit jeder Geste deutlich, dass er hier der Chef ist. Er schreckt nicht zurück vor drastischen Entscheidungen: Einmal ließ er einen Arzt von der Polizei aus seiner Praxis holen, weil der nicht einsah, dass er zum Prozess persönlich erscheinen muss.

Hoeneß ist auf das Spielfeld von Heindl geraten. Und Hoeneß sitzt da und sieht aus, als müsse er plötzlich Wasserball spielen.

Seit dem Morgen ist die Spannung unerträglich. Man meint Hoeneß anzusehen, dass er das hier nicht mehr lange durchhält. Hoeneß, das war meistens: Attacke. Das ist der Bulle, der vorwärts stürmt. Der jeden auf die Hörner nimmt, der sich ihm entgegenstellt.

Uli Hoeneß sitzt am Morgen auf seinem Stuhl, in diesem großen, hellen Gerichtssaal, und hat die Handflächen vor sich auf den Tisch gelegt. Er hört, was der Staatsanwalt zu sagen hat. Er sitzt ganz still, fast unbewegt. Nur sein Kopf ist gerötet, die Lippen sind zusammengepresst. Und sein kleiner Finger zuckt. Immer wieder. Auch wenn er die andere Hand darüberlegt. Der Finger zuckt weiter.

Der Finger zuckt, als der Staatsanwalt erklärt, seine Selbstanzeige sei unwirksam. „Es gab aufsehenerregende Steuerstrafverfahren“, sagt Staatsanwalt Achim von Engel in seinem Plädoyer. „Es gab CDs, die aus der Schweiz kamen. Aber es geschah erst mal nichts.“ Dann sollte das Steuerabkommen mit der Schweiz geschlossen werden. „Herr Hoeneß ließ sich sogar berechnen, was das für ihn bedeuten würde“, sagt Engel. Wieder zuckt Hoeneß’ kleiner Finger. Hoeneß habe die Selbstanzeige nur „aus Angst vor Entdeckung“ in einer einzigen Nacht „zusammengebastelt“. Ein „Schnellschuss“, sagt der Staatsanwalt, nicht wirksam.

Der Richter wird dem Staatsanwalt in diesem Punkt später recht geben.

Und der Staatsanwalt findet auch nichts, gar nichts, was für Hoeneß wirklich strafmildernd sein könnte. Nicht der öffentliche Pranger, an dem Hoeneß seit vielen Monaten steht, nicht der Verrat des Steuergeheimnisses, dessentwegen gegen Mitarbeiter der Steuerbehörden ermittelt wird, nicht die Lebensleistung von Hoeneß – und eben auch nicht seine Selbstanzeige. Sicher, Hoeneß habe sich beträchtliche Verdienste im sportlichen und sozialen Bereich erworben. Aber das dürfe nicht mit den Straftaten „verrechnet“ werden. Und Achim von Engel nimmt sogar das Wort „kriminelle Energie“ in den Mund. Uli Hoeneß habe dieses Konto ja in der Schweiz eben deshalb angelegt, damit es nicht entdeckt werden könne.

Dann fordert der Staatsanwalt fünf Jahre und sechs Monate Haft für ihn. Hoeneß’ Finger zuckt wie gehabt. Und Susi Hoeneß’ Kinn zittert. Sie wird nun regelrecht grau im Gesicht.

Auftritt Hanns Feigen, Hoeneß’ Verteidiger. Ein Mann wie ein Fels. Mit einer Stimme wie Donnerhall. Und er macht eine ganz andere Rechnung auf. Eine Rechnung, die seinen Mandanten Uli Hoeneß immer wieder hoffnungsvoll zu seinem Verteidiger hochblicken lässt. Wie einer, der hofft, dass es vielleicht doch nicht ganz so schlimm kommen wird, wie es aussieht. Er täuscht sich.

Hanns Feigen ist einer, von dem selbst die Herren der Münchner Staatsanwaltschaft sagen, er sei sein Geld wert. Feigen wird nun grundsätzlich. Und man sieht schon, dass diese Sache letztlich vom Bundesgerichtshof entschieden werden muss.

Also, sagt Feigen, wenn der Gesetzgeber wolle, dass eine Selbstanzeige strafbefreiend wirkt, dann könne doch eine nur an Formalien gescheiterte Selbstanzeige nicht gar nichts wert sein.

Denn für Feigen ist es nur eine Formalie, die Hoeneß’ Berater übersehen haben. Sie hätten in die Selbstanzeige reinschreiben sollen, dass vermutlich – trotz Verlusten im Ganzen – immer auch Gewinne angefallen waren.

„Es lag nicht an Herrn Hoeneß, dass man ihn auf die in den Verlusten versteckten Gewinne nicht hingewiesen hat. Er wusste das nicht, er konnte das auch nicht sehen“, sagt Feigen. Und es könne unterm Strich kaum einen Unterschied machen, ob eine Selbstanzeige an formalen Mängeln scheitere oder wirksam sei, sagt Feigen. Denn entscheidend sei der Wille, zur Steuerehrlichkeit zurückzukehren. Und der sei bei Hoeneß gegeben. Einig sei man sich, dass Hoeneß noch nicht entdeckt war. Und auch die Höhe der hinterzogenen Steuern sei für die Gültigkeit der Selbstanzeige nicht relevant. Die 28,5 Millionen tut Feigen kurz ab: Das habe man aus der Selbstanzeige doch herauslesen können.

Deswegen hält der Verteidiger auch die Strafforderung des Staatsanwalts nach fünf Jahren und sechs Monaten für „völlig verfehlt“. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs, dass für Steuerhinterziehung ab einer Million Euro keine Bewährung mehr möglich sei, beziehe sich auf Täter, deren Taten entdeckt würden, weil sie verhaftet oder durchsucht würden. Aber nicht auf Menschen wie Hoeneß, die von sich aus eine Selbstanzeige machen und deren Wirksamkeit nur „knapp verfehlt“ worden sei.

Feigen fordert für Hoeneß deshalb zweierlei: Wenn der Richter zu der Auffassung komme, dass die Selbstanzeige wirksam ist, dann sei das Verfahren einzustellen und der Haftbefehl aufzuheben. Sei sie aber nicht wirksam, dann fordere er Bewährung für Hoeneß.

Und der Anwalt verspricht: Die Steuerlast von 28,5 Millionen Euro werde „unter Aufbringung aller Kräfte“ kurzfristig bezahlt. „Das ist ja kein Pappenstil.“

Zehn Millionen hat Hoeneß schon bezahlt. Aber auf ihn kommen mit Zinsen und Strafzahlungen fast 50 Millionen Euro zu. So viel Geld hat auch ein Uli Hoeneß nicht. Obwohl er immer gut verdient hat. Man weiß seit dieser Woche genau wie viel. 2003: 6,5 Millionen Euro Einkommen. 2004: 6 Millionen. 2005: 11,5 Millionen, 2006: 10,9 Millionen, 2007: 10,1 Millionen. 2008: 13,8 Millionen. Das alles wurde vor Gericht verlesen.

Nun aber ist die wirtschaftliche Lage von Hoeneß ziemlich prekär, das hatte zuvor schon der Richter deutlich gemacht. Er regte am Morgen an, die Verlustvorträge in Höhe von ein paar Millionen Euro, die Hoeneß angegeben hatte, aus dem Verfahren herauszunehmen. „Herr Hoeneß wird in diesem Leben nicht mehr die Möglichkeit haben, diese Verlustvorträge geltend zu machen“, sagte Heindl. Man könnte es auch so formulieren: Hat Hoeneß alle Steuerschulden bezahlt, ist er ein armer Mann.

Ein armer Mann, aber doch ein guter Mann, darauf legt sein Anwalt Wert.

Hanns Feigen sagt: „Herr Hoeneß ist nicht vorbestraft. Er hat sich mustergültig in seinem Leben verhalten, beruflich und privat. Er war Nationalspieler, er hat Gutes und sehr Gutes für den FC Bayern getan, er hat 350 Arbeitsplätze in seiner Wurstfabrik geschaffen. Und er hat auch gespendet, wenn er Verluste gemacht hat.“ Das sei ihm wichtig, sein Mandant wolle der Häme entgegentreten, sagt Feigen. „Ich muss nicht von Gerd Müller sprechen und seinem Schicksal, das weiß jeder, was Hoeneß da geleistet hat.“ Hoeneß hat Müller, als der schwer alkoholkrank wurde, wieder Halt im Verein gegeben. Und nun, sagt Feigen, „stehen Idioten an seinem Zaun“. Hoeneß sagt in seinem letzten Wort: „Ich habe nichts hinzuzufügen. Mein Verteidiger hat alles gesagt, was ich nicht besser hätte formulieren können.“

Der Richter nun hat sich von der Rede des Verteidigers nicht beeindrucken lassen. Vielleicht hat er eher an Christoph Daum gedacht, den Uli Hoeneß seinerzeit zu Fall brachte. Mit dem Satz, einer wie Daum, der in Verdacht stand, Kokain zu nehmen, könne nicht Bundestrainer sein. Es gab Zeiten, das stand Hoeneß auf der Seite derer, die richten. Und nun wird über ihn selbst gerichtet.

Ist das nicht schon ein Teil der Strafe für Uli Hoeneß? Ganz in der Hand eines Mannes zu sein, den er nicht kennt, den er nicht einschätzen kann, dessen Spielregeln er nicht kennt? Vor diesem Richter zu stehen, der nur Fragen stellt, klar, detailliert, präzise. Der ihn aber nicht nach dem fragt, was Uli Hoeneß wichtig ist: nach dem, was er geleistet hat, er, der Präsident des reichsten und erfolgreichsten Fußballvereins der Welt, der Mann, der die beste Mannschaft der Welt zusammengestellt hat, Gewinner des Triple im Jahr 2013, gerade vorgerückt ins Viertelfinale der Champions League. Ein Mann, den sie den guten Menschen von der Säbener Straße nennen, der Zentrale des FC Bayern.

Für Rupert Heindl zählt nicht das Herz, der Bauch, das Gefühl – all das, was für Hoeneß zählt.

Heindl zählt Zahlen zusammen, wühlt sich durch Listen der Steuerfahndung und fragt nach Strategien, Futures und Devisentermingeschäften. Er fragt nach dem, was Uli Hoeneß für ein Spiel hielt. Nur dass es für den Richter kein Spiel ist. Sondern Steuerhinterziehung.

Und für Hoeneß ist es eine Tragödie.

„Ich hätte mir für Hoeneß einen einfacheren Richter vorstellen können“, sagt ein Anwalt, der Heindl aus vielen Prozessen kennt. Heindl sei nicht stur, er sei für gute Argumente durchaus zugänglich. Aber eines lasse er nicht an sich heran: öffentliche Meinung, öffentliche Ratschläge, öffentlichen Aufruhr. Und all das gibt es in der Causa Hoeneß so oft und heftig wie nie, und zwar für den Angeklagten und gegen den Angeklagten.

Dagegen hat sich Richter Heindl verwahrt und kritisiert, seine Kammer sei in Kommentaren sogar in die Nähe der Rechtsbeugung gerückt worden. Dabei wissen Kollegen von ihm, dass er sich nicht beeinflussen lässt, weder von Hoeneß-Fans, noch von Hoeneß-Hassern: „Dass Uli Hoeneß vor ihm steht, ist dem Heindl wurscht. Selbst wenn er selbst Sechzger-Fan wäre.“

Man weiß nicht, ob Richter Heindl überhaupt Fußballfan ist, er gibt nur das Nötigste von sich preis. So weiß man nur, das er erst Staatsanwalt war, dann Amtsrichter in Wolfratshausen, später Beisitzer in der Wirtschaftskammer und nun seit einigen Jahren Vorsitzender Richter.

Was man merkt: Richter Heindl irritiert die hemdsärmelige Art, die Hoeneß im Umgang mit seinen Steuern walten ließ.

Er lässt den Angeklagten das auch immer wieder spüren. Zum Beispiel, als Hoeneß erzählt, er habe bei der Vontobel-Bank immer nur einen Mitarbeiter angerufen, dem habe er hundertprozentig vertraut. Kontoauszüge habe er nie gesehen. Einmal hat er an einem einzigen Tag 18 Millionen Euro verloren. Das sei „automatisch“ über die Bank gelaufen, sagte Hoeneß.

Da glaubte man im Blick von Rupert Heindl zu sehen: Für ihn war Uli Hoeneß kein Präsident. Sondern ein Zocker, der sich überschätzt hat.

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SÜDDEUTSCHE ZEITUNG / SEITE DREI / 14.07.2016

Organversagen

Der Pfleger Niels Högel konnte zum Massenmörder werden, weil niemand genau hinsah. Spurensuche
in Kliniken, Gerichten und Gräbern

VON ANNETTE RAMELSBERGER

Die Kirche Sankt Laurentius steht seit fast 900 Jahren auf der ersten kleinen Anhöhe hinter dem Marschland. Gerade zwei Meter höher liegt sie als die Wiesen, die sich bis zur Weser ziehen, aber doch sicher vor Hochwasser und Sturmflut. Das wissen die Menschen seit alters her. Die Kirche in Hasbergen bei Delmenhorst war immer ein Schutzwall, ein Zufluchtsort, im Leben wie im Tod. Wer hier betet, fühlt sich sicher. Wer hier liegt, hat seine Ruhe. Bis in alle Ewigkeit.

Oder bis zu jenem frostfreien Tag im Januar 2016, kurz nach acht Uhr morgens.

Sie kamen im Morgengrauen. 20 Männer und Frauen trafen sich im evangelischen Gemeindehaus gegenüber der Kirche, neben dem reetgedeckten alten Schulhaus. Sie waren gekommen, um die Ruhe zu stören.

Die Polizisten sollten vier Leichen exhumieren, die Körper von Menschen, die im Krankenhaus Delmenhorst gestorben waren, damals, in den Jahren 2002 bis 2005, an Herzversagen. Die Polizisten sperrten den Friedhof, stellten Sichtschutzwände um die Gräber, sie legten die Schaufeln bereit. Bevor sie anfingen, gingen sie in die Kirche. Hier, in den Bänken, unter dem Orgelgestühl verharrten sie in stiller Andacht. Sie wussten, was ihnen bevorstand.

Nur der Pastor sprach ein paar Worte: Wie wichtig die Totenruhe sei. Wie groß die Herausforderung dieser Aufgabe. „Die ewige Ruhe bei Gott, die ist unzerstörbar, das habe ich gesagt“, erinnert sich Pastor Stephan Meyer-Schürg. Er versuchte, den Polizisten Stärkung mit auf den Weg zu geben, auf den Weg zu den Gräbern. „Die Ruhe der Toten zu stören, das macht niemand freiwillig“, sagt er. Aber es gehe nun mal darum, ein Verbrechen zu klären. Nicht irgendeines, sondern den größten Serienmord der Nachkriegsgeschichte.

Kein Angehöriger darf bei der Exhumierung dabei sein. Keiner darf neben dem Grab stehen. Auch Kathrin Lohmann nicht, die von Anfang an ahnte, dass ihre Mutter keines natürlichen Todes gestorben war. Sie, die den ganzen Prozess erst in Gang setzte. Wegen ihrer Hartnäckigkeit werden nun auf den Friedhöfen rund um Bremen und Delmenhorst und Oldenburg Menschen exhumiert. Kathrin Lohmann stand nur ganz am Rand des Friedhofs, als es geschah, eine schmale, knabenhafte Frau, der die Anspannung noch immer ins Gesicht geschrieben steht.

Dafür saß sie 2015 mitten drin im Gerichtssaal, Auge in Auge mit dem Mann, der ihre Mutter getötet hatte: der Krankenpfleger Niels Högel, 39, massig, schwere Augenlider, fettiges Haar, akkurat getrimmter Kinnbart. Ein Mann, der im Jahr 2005 von einer Krankenschwester dabei erwischt wurde, wie er einem Patienten auf der Intensivstation ein Mittel spritzte, das tödliche Herzrhythmusstörungen auslöst. Als Kathrin Lohmann dem Mörder ihrer Mutter ins Gesicht sah, hatte sich der Rechtsstaat bereits an ihm abgearbeitet. Es war schon der dritte Prozess gegen den Krankenpfleger. Im ersten wurde er 2005 wegen versuchten Totschlags zu fünf Jahren Haft verurteilt. Und zu fünf Jahren Berufsverbot. Im zweiten dann  – der Revisionsverhandlung 2008 – waren es schon sieben Jahre und lebenslanges Berufsverbot. Aber erst im dritten Prozess, der im Frühjahr 2015 endete, wurde klar, wer da vor Gericht stand: ein Serienmörder, der mindestens 30 Menschen getötet hatte, vermutlich aber sehr viele mehr.

Doch 2005 passierte zunächst nichts. Obwohl das Krankenhaus Delmenhorst in Niedersachsen noch im Sommer 2005 seine Statistiken an die zuständige Staatsanwaltschaft geschickt hatte. Danach war in den Jahren 2003 und 2004, in denen Högel in Delmenhorst gearbeitet hatte, die Sterberate auf der Station fast doppelt so hoch wie in den Jahren zuvor. Der Verbrauch des Herzmittels Gilurytmal war siebenmal höher als im Jahr davor. Von den 411 Menschen, die während seiner Zeit in dem Krankenhaus starben, waren es 321 während seiner Schicht. Das konnte kein Zufall sein.

Allen war das klar. Die Polizei wollte weiter ermitteln, aber die Staatsanwälte winkten ab, der erste, der zweite, und auch der dritte. Und der mutmaßliche Serienmörder spazierte nach dem ersten Urteil vier Jahre lang als freier Mann herum. Er arbeitete in einem Altenheim und beim Rettungsdienst. Denn wegen der Revision galt das Berufsverbot nicht, das hätte das Gericht eigens verfügen müssen, tat es aber nicht. Erst 2009 – nach dem zweiten Prozess – ging Högel ins Gefängnis. Damit war es gut für die Staatsanwaltschaft.

Aber nicht für Kathrin Lohmann. Sie las in der Zeitung von diesem Krankenpfleger, sie erfuhr, dass Högel auch Dienst hatte, als ihre Mutter überraschend starb. Eine lebenslustige Frau von 60 Jahren, auf dem Weg der Besserung, die sich darauf gefreut hatte, mit ihrem neuen Mercedes vom Krankenhaus nach Hause zu fahren. Kathrin Lohmann ahnte, dass dieser Tod nicht natürlich war. Die Tochter rief bei der Polizei an, bei der Staatsanwaltschaft. Immer wieder. Immer vergebens. Immer neue Staatsanwälte wimmelten sie ab. Der Tenor: Högel säße doch ohnehin im Gefängnis. Von ihm ginge doch keine Gefahr mehr aus. Und Exhumierungen kosteten Geld. Sie solle die Toten ruhen lassen.

Nun graben sie doch. 99 Tote hat die Sonderkommission „Kardio“ bisher exhumiert. Bei 33 wurde das tödliche Herzmittel entdeckt. Es hat ein Massenmord stattgefunden, nur wollte es keiner wissen.

Pastor Enno Konukiewitz war immer wieder dabei, wenn auf dem Friedhof neben dem Krankenhaus Delmenhorst ein Grab geöffnet wurde. „Ich habe größte Hochachtung vor den Menschen, die das letzte Stück machen müssen.“ Erst räumen die Friedhofsarbeiter den Grabstein weg und den Blumenschmuck. Dann graben sie in die Tiefe. Bis sie auf den Sarg stoßen. Das letzte Stück legen dann die Polizisten frei, damit nichts zerstört wird. Und Polizisten öffnen auch den Sarg, sagt Konukiewitz. Es ist nasser, mooriger Boden rund um Bremen. Seit dreizehn, vierzehn Jahren liegen die Menschen, die während Högels Dienstzeit gestorben sind, in ihren Gräbern. „An feuchten Stellen sind die Körper wie einbalsamiert“, sagt Konukiewitz.

Er hat sich angesehen, was da passiert: eine Arbeit, schwieriger als die eines Bestatters. Der hat einen toten Körper, den er zur Ruhe bettet. Die Polizisten aber, die ins Grab klettern, finden in dem Holzsarg einen Leichnam, der oft nur noch vom Lieblingskleid oder dem Festtagsanzug zusammengehalten wird. Sie legen ihn vorsichtig auf eine Decke, dann kommt er in einen neuen Sarg und wird zur Gerichtsmedizin nach Oldenburg gebracht. Hier werden Proben genommen, ob das Herzmittel Gilurytmal nachzuweisen ist. Mit dem hat Högel in erster Linie getötet.

„Die Menschen, die diese Arbeit tun, erleben ganz nah, dass der Mensch wieder zur Erde wird“, sagt Pastor Konukiewitz. Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub. „So sagt es auch unser Glaube.“ Er hat gesehen, wie die Polizisten, die Psychologen, die Arbeiter dann alle zusammenstehen. Es fällt kein flapsiges Wort, kein schräger Witz, um sich Erleichterung zu verschaffen. „Würdevoll“, sagt der Pastor.

Drei Stunden später kommt der Sarg zurück, durch die Friedhofspforte direkt zum Grab. In Sankt Laurentius läutet dann die Glocke, auf dem nun wirklich allerletzten Weg des Toten. Jetzt dürfen die Angehörigen dabei sein, meist sind es nur wenige. „Das ist ihnen dann doch eine Stufe zu schwer“, sagt Pastor Meyer-Schürg. Aber sie seien beruhigt, wenn sie die Nachricht bekommen, dass bei ihren Toten nichts gefunden wurde. Und die anderen, bei denen etwas gefunden wurde? Da verstummen die Pastoren.

Dafür redet Gaby Lübben. Die Anwältin hat mit Kathrin Lohmann gekämpft, sie vertrat sie vor Gericht, beim dritten Prozess gegen Högel 2015. Da wurde er dann schon wegen dreier Morde angeklagt. Es hätten viel mehr sein können. „Ermittlungsblockade“, nennt Gaby Lübben das. Die 39-Jährige ist eine kantige, kämpferische Frau, Anwältin der Opferhilfe „Weißer Ring“, gern gerade heraus. Schon im August 2011 hatten sich zwei Häftlinge bei der Staatsanwaltschaft gemeldet. Einer sagte, Högel habe im Gefängnis mit weiteren Morden geprahlt. Ein zweiter Häftling berichtete, Högel habe zu ihm gesagt, er habe „bei 50 aufgehört zu zählen“. Ein Satz wie ein Donnerschlag.

Es folgte: nichts. Oder doch: Der zuständige Staatsanwalt, mittlerweile der dritte, schickte eine Akte auf die Reise. Nach Oldenburg, nach Lingen, wieder nach Lingen, nach Köln. Und immer wieder kam sie zurück. Man weiß das alles, weil die eigenen Kollegen gegen diesen Staatsanwalt ermittelt haben, wegen Strafvereitelung und Rechtsbeugung. Dabei wollten die Häftlinge dringend reden. Die Justizvollzugsanstalt Aurich versuchte, den Staatsanwalt telefonisch zu erreichen. Er ging nicht ran. Man schrieb eine E-Mail an ihn, der Häftling in Aurich sei aussagebereit, es belaste ihn sehr, von bis zu 100 Tötungen zu wissen. Es dauerte zwei Monate, bis der Staatsanwalt mit den Häftlingen sprach. Wieder zwei Monate später gab er seine Mitschrift zu den Akten. Anklage erhob er nicht.

Zwei Jahre lang war dieser Staatsanwalt für die Ermittlungen gegen Högel zuständig. 578 Arbeitstage lang, an denen er an 176 Tagen nicht da war: wegen Urlaub, Krankheit oder Fortbildung. Das haben seine Kollegen ermittelt. In der Zeit, in der er da war, delegierte er die Arbeit. Obwohl die Aussage der Häftlinge schon in der Akte stand, sollte auch noch ein Richter sie vernehmen. Erst einer in Oldenburg, dann einer in Lingen. Der Ermittlungsrichter dort notierte, er habe „x-fach“ versucht, den Staatsanwalt zu erreichen. Vergebens. Er sandte die Akten zurück. Der Staatsanwalt schickte sie ihm wieder zu. Dann meldete sich noch ein Häftling, auch ihm hatte Högel von seinen Taten erzählt. Wieder sollte der Häftling richterlich vernommen werden. Daraus wurde nichts. Einmal war der Häftling als Zeuge vor Gericht, beim nächsten Mal war er schon nach Köln verlegt worden. Dort war dann sein Anwalt nicht da. Die Akten kehrten nach Oldenburg zurück. Bis zum 17. November 2013 ging es in dem Verfahren nur hin und her, aber nicht voran. Am 18. November übernahm die Nachfolgerin des Staatsanwalts den Fall. Sie erhob innerhalb von sieben Wochen Anklage gegen Högel. Es ging also.

„Ohne unseren Druck würde es dieses Ermittlungsverfahren nicht geben“, sagt Gaby Lübben. Ohne den Druck der Angehörigen, die die Ungewissheit nicht mehr aushielten. Und ohne ihren Zorn auf die Staatsanwaltschaft. Der ist noch gewachsen, als im Sommer 2015 das Landgericht Oldenburg befand, dem Staatsanwalt sei kein strafrechtlicher Vorwurf zu machen. Er habe doch „fortlaufend die Akte gefördert“. Es sei „ohne Bedeutung“, ob seine Maßnahmen sinnvoll und effizient waren. Das Landgericht ließ die Anklage wegen Strafvereitelung nicht zu.

Gaby Lübben stöhnt noch immer auf, wenn sie daran denkt. „Die tun alle so, als wenn es keinen Unterschied macht, ob Högel drei oder 30 Menschen getötet hat“, sagt Lübben. „Das ist nicht so. Mit jedem nachgewiesenen Mord mehr kommt er später aus der Haft.“ Ein Unterschied, der 17 oder 30 Jahre Gefängnis bedeuten kann. Ein Unterschied – auch für die Hinterbliebenen.

„Kathrin Lohmann kam als gebrochener Mensch zu mir“, sagt Anwältin Lübben. „Gebeugt, müde, resigniert.“ Die Juristin hat ihr den Kampfgeist wieder eingehaucht. Über Gaby Lübbens Schreibtisch hängt ein Bild. Eine sturmzerzauste Landschaft mit einer Treppe, die nach oben ins Licht führt. Sie glaubt daran, dass es da oben mehr gibt als nur Wolken und Wind. „Für mich ist klar: Die Seelen der Toten kriegen erst Ruhe, wenn Niels Högel seine Strafe bekommen hat.“ Lübben macht kurz Pause. „Und auch man selbst kriegt erst dann seine Ruhe.“

Bei ihrem Plädoyer im Februar 2015 hat sie dem Angeklagten Högel im Gerichtssaal DIN-A-3-große Fotos seiner Opfer gezeigt. Das Bild von Kathrin Lohmanns Mutter, das Bild eines 45 Jahre alten Elektrikers mit drei kleinen Kindern. Allen hatte Högel das Herzmittel Gilurytmal gespritzt, sie vorsätzlich in Lebensgefahr gebracht und dann versucht, sie zu reanimieren. Nicht, um Kranke von ihrem Leiden zu erlösen. Er wollte den „Kick“ spüren, sagte er. Sich selbst auf „ein Podest“ stellen und zeigen, wie gut er war. Manchmal gelang es ihm, oft nicht. Kathrin Lohmann ließ Högel im Gerichtssaal nicht aus den Augen. Sie bot all ihre Kraft auf, um den Prozess zu überstehen. Ohne sie und ihre Hartnäckigkeit wäre Högel heute längst wieder frei.

Jetzt will sie nicht mehr. Will nicht mehr, dass dieser Mann ihr Leben weiter bestimmt. Sie hat sich zurückgezogen. Anwältin Lübben aber vertritt mittlerweile

48 neue Mandanten, Angehörige, die plötzlich einen Brief bekommen, dass ihr Mann, ihre Mutter, ihr Vater exhumiert werden sollen. „Die trifft das wie eine Bratpfanne vor den Kopf“, sagt Lübben. „Der Instinkt fragt: Wie können wir das verhindern?“ Sie können es nicht verhindern.

99 Tote wurden bisher exhumiert. Es sind noch nicht alle. Nach den Verdachtsfällen von Delmenhorst werden nun auch die Akten des Krankenhauses Oldenburg durchforstet auf unerklärliche Todesfälle. Vor seiner Zeit in Delmenhorst hatte Högel zwei Jahre in Oldenburg gearbeitet, dort soll er die Kranken mit Kalium vergiftet haben. Das aber ist durch Exhumierungen nicht nachweisbar. In jeder Leiche findet sich Kalium. Die genaue Zahl der Opfer wird vermutlich nie geklärt werden.

Es wird einen neuen Prozess gegen Högel geben. Das Urteil wird sicher auf lebenslang lauten. Doch es könnte auch noch einen weiteren Prozess geben. Einen wegen „Totschlag durch Unterlassen“. Der könnte sich dann gegen acht frühere Verantwortliche in den Krankenhäusern von Oldenburg und Delmenhorst richten. Die Namen der Beschuldigten, selbst ihre Funktionen, hält die Polizei geheim. Doch man muss nur das Urteil gegen Högel vom Februar 2015 lesen und man erkennt sofort, wo das Gericht Versagen sieht. Beim Chefarzt in Oldenburg zum Beispiel, dem auffiel, wie sich Högel ständig in den Vordergrund spielte und die Reanimationen an sich riss. Der Chefarzt sprach die Pflegedirektorin darauf an. „Sie vermochte in dem Verhalten des Angeklagten jedoch nichts Falsches zu erkennen und veranlasste nichts“, schrieb der Richter, der Högel im Februar 2015 zu lebenslanger Haft verurteilte.

Immer wieder wandten sich Ärzte an die Pflegedirektorin. Einmal hatte Högel zu einer Reanimation sogar zwei Lernschwestern hinzugeholt, um ihnen zu zeigen, wie gut er war. Viele Kollegen hatten ein „ungutes Gefühl“. Ständig musste reanimiert werden, wenn Högel in der Nähe war. Aber man holte nicht die Polizei, man lobte den Mann weg – mit einem Zeugnis, das ihm bescheinigte, „umsichtig, gewissenhaft und selbständig“ und zur „vollsten Zufriedenheit“ gearbeitet zu haben. Dann wurde er bei vollen Bezügen drei Monate freigestellt.

Am 15. Dezember 2002 fing Högel in Delmenhorst an. Am 22. Dezember gab es dort den ersten ungeklärten Todesfall. Die Zahl der verbrauchten Gilurytmal-Ampullen stieg von 50 im Jahr 2002 auf 380 im Jahr 2004. Dabei wurde das Mittel von den Ärzten kaum verabreicht. Eine Krankenschwester wandte sich mit leeren Ampullen an den Stationsleiter, der ermahnte sie, ihre Kompetenzen nicht zu überschreiten. Der Polizeipräsident von Oldenburg erklärte zu den neuesten Ermittlungen, die Morde in Delmenhorst hätten verhindert werden können, wenn man in Oldenburg die Polizei informiert hätte. Juristen nennen das „Totschlag durch Unterlassen“.

Es gab übrigens auch einen Sonderausschuss im niedersächsischen Landtag zu der Mordserie. Er empfahl im April ehrlichere Arbeitszeugnisse, mehr Obduktionen, die Möglichkeit, über ungute Gefühle reden zu können, ohne sofort als Denunziant dazustehen. Und er erklärte, der Verdacht habe sich nicht erhärten lassen, dass die Staatsanwaltschaft Oldenburg deswegen nicht ermittelte, weil eine Nähe zum Klinikum Oldenburg bestanden habe. Der Sonderausschuss machte eine andere Ursache aus: „Es herrschten in der Staatsanwaltschaft Oldenburg vielmehr systematische Organisationsdefizite“, so fehlte eine Liste noch nicht ausermittelter Verfahren, es habe an Kommunikation, Berichtspflichten und einer effizienten Dezernatsaufteilung gemangelt. Schlicht: ein Sauhaufen.

Was daraus folgte? Der Staatsanwalt, der „die Akte förderte“, aber nicht die Anklage, ist jetzt Richter. Der Leiter der Staatsanwaltschaft ist weiter Leiter der Staatsanwaltschaft. Die Chefärzte, die ein ungutes Gefühl hatten, haben in anderen Städten Karriere gemacht. Und die untätige Pflegedienstleiterin ist im Ruhestand.

Nur auf den Friedhöfen rund um Oldenburg herrscht keine Ruhe. Eigentlich habe man mit den Exhumierungen bis Juni fertig sein wollen, erklärte der Polizeipräsident vor zwei Wochen, aber das schaffe man nicht. Er holte tief Luft. Dann sagte er: „Das Grauen geht weiter.“

Vor Sankt Laurentius in Delmenhorst stehen die beiden Pastoren. Sie wissen nicht, wann die nächste Exhumierung ansteht. Sie wissen nur, dass sie den Angehörigen und Polizisten dann geben werden, was ihre Aufgabe ihnen sagt: Trost.

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SÜDDEUTSCHE ZEITUNG / ESSAY / 16.6.2018

432 Tage

So lange schon läuft in diesem Raum der NSU-Prozess. Unsere Autorin war an fast jedem Tag dabei. Sie erzählt, wie
das ihr Leben verändert hat

VON ANNETTE RAMELSBERGER

Wenn es wirklich ernst wird, dann ist es vorbei mit den Pressekonferenzen und den öffentlichen Auftritten. Dann werden Journalisten zu Hintergrundgesprächen geladen, wo man mehr hört, als man schreiben kann: beim Verfassungsschutz, beim Bundesnachrichtendienst, im Innenministerium. Ich saß in vielen dieser Runden, als ich von 2002 bis 2008 für die Süddeutsche Zeitung in Berlin war, zuständig für Innere Sicherheit und Terrorismus. Oft wurde in diesen Gesprächen die Frage gestellt: Gibt es eine braune RAF? Die Antwort war: Gibt es nicht. Die Rechten sind zu dumm, haben keinen Anführer. Und wenn sich so etwas anbahnt, so brüsteten sich die Experten, „dann erfahren wir das“ – so umstellt seien die Radikalen von staatlichen Spitzeln.

Als diese Worte fielen, zog eine rechtsradikale Mörderbande unerkannt und ungehindert durch Deutschland und erschoss zehn Menschen, legte Bomben und raubte Banken aus.

Als sich der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) dann 2011 selbst enttarnte, blickte die Republik in einen Abgrund, den niemand für möglich gehalten hatte. Auch mir zog es den Boden unter den Füßen weg. Auch ich hatte bei den so schrecklich als „Döner-Morde“ bezeichneten Hinrichtungen nicht an eine braune RAF gedacht. Dabei hatte ich doch selbst beobachtet, wie sich der Nährboden für den NSU entwickelte, wie sich der Hass in die Gesellschaft fraß. Ich war ein Jahr vor dem Mauerfall als Korrespondentin in die DDR gegangen, damals ahnte noch niemand das Ende. Ich hatte die Leute auf dem Bau gesehen, die sich „HASS“ auf ihre Finger tätowieren ließen, die beiden S in Fraktur. Ich hatte mit Bürgerrechtlern geredet, die mir vom Angriff von Neonazis auf die Zionskirche erzählten, während die Vopos zuschauten. Was niemand wahrhaben wollte: Es gab Rechtsradikale schon in der DDR.

Ich bin dann nach der Wende durch die frühere DDR gefahren. Und ich hatte die Zeichen gesehen: Den Schüler, der mit seiner Klasse im Rathaus von Dessau stand und ein Hakenkreuz auf seiner Jacke trug. Der Lehrer, den ich darauf ansprach, sagte nur: „Ich bin schon froh, wenn die Jungs morgens zur Schule kommen. Um so was kann ich mich nicht auch noch kümmern.“ Ich traf die 20 Jahre alte Sozialarbeiterin, die allein durch die Sächsische Schweiz kurvte. Sie versuchte, die harten Neonazis zu zähmen – während ihr Landesvater Kurt Biedenkopf erklärte, die Sachsen seien immun gegen Rechtsextremismus.

Wenn ich zurückkam, sagten manche Kollegen, ich solle mal nicht übertreiben.

Es war die Zeit, als Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in den Untergrund gingen.

Als dann am 6. Mai 2013 vor dem Oberlandesgericht München der Prozess gegen den NSU begann, war das nicht nur ein historischer Prozess. Im Saal A 101 liefen viele Fäden zusammen: meine Erfahrungen in der DDR, die Erlebnisse in der wilden Nachwendezeit. Für mich spielte auch etwas sehr Persönliches mit: Ich hatte die Zeichen gesehen und dennoch gehofft, dass es schon gutgehen würde. Es ging nicht gut.

Mir war wichtig, diesen Prozess intensiv zu begleiten. Ein kleines Team von SZ- und SZ-Magazin-Kollegen war jeden einzelnen Tag im Gericht. Nichts wollten wir diesmal übersehen. Nicht die Schuld der Angeklagten, nicht das Versagen der Ermittler, nicht das mögliche Mitwissen des Verfassungsschutzes. Damals ahnte nur noch niemand, dass der Prozess fünf Jahre dauern würde. Fünf Jahre, in denen man ständig in einen Abgrund schaut. Und es wusste auch niemand, wie sehr sich das Land in dieser Zeit verändern würde.

Anfangs erschien es allen noch als verrückt, wenn rechtsradikale Zeugen vor Gericht davon sprachen, sie seien politisch „ganz normal“, „so wie alle“. Später sah man solche angeblich Normalen plötzlich überall: wenn sie Galgen für die Kanzlerin durch Dresden trugen, wenn sie Flüchtlingskinder mit dem Flammenwerfer grillen wollten und das noch lustig fanden.

Dieser Prozess hat nicht nur eine juristische Tiefenbohrung betrieben, er ist auch bis in die tiefsten Ablagerungen der Gesellschaft vorgestoßen. Es wäre so wichtig, dass das Gericht endlich sein Ergebnis präsentiert. Doch aus dem Jahrhundertprozess ist ein Hochamt der Zermürbung geworden. Aus dem Versuch, Rechtsfrieden in Deutschland zu schaffen, wurde eine Leistungsschau juristischen Schattenboxens. Nach 432 Verhandlungstagen in den Jahren 2013, 2014, 2015, 2016, 2017 und 2018 fühlen sich viele im Gerichtssaal, als hätte ihnen jemand eine unsichtbare Fußfessel angelegt, die sie an das Oberlandesgericht kettet.

Am schlimmsten sind die Tage, wenn die Hoffnung schon keimt, dass es zu Ende gehen könnte. An denen eigentlich nichts mehr den Weg zum Urteil blockiert. Alle Anträge beschieden, alle Zeugen gehört. Und dann kommt doch wieder ein Befangenheitsantrag. Von irgendeinem der 14 Verteidiger. Das bedeutet: wieder wird unterbrochen, wieder sind alle vergebens gekommen. Wieder raffen alle ihre Akten zusammen, stopfen ihre Roben in den Koffer, checken auf dem Handy: Reicht es noch für den nächsten Zug? Nach Köln, Berlin, Karlsruhe. Dann ziehen sie ihre Rollkoffer raus und hasten davon. Und wieder sinkt die Aufmerksamkeit für diesen Prozesses unter die Bewusstseinsschwelle.

Nichts ist zu unwichtig, als dass es nicht für einen Befangenheitsantrag herhalten muss: nicht, wenn der Mundwinkel einer Richterin zuckt. Nicht, wenn der Richter einen Verteidiger barsch anspricht. Nicht, wenn auf dem Aktenordner eines Richters „NSU“ steht – wo doch nach Ansicht manches Verteidigers noch gar nicht erwiesen ist, dass es diesen NSU überhaupt gab. An Tagen wie diesen ächzt der altgediente Bundesanwalt Herbert Diemer voll Sarkasmus: „Mein Hotelzimmer ist bis 2019 reserviert.“ Und an Tagen wie diesen kann man sich ausmalen, was im Richterzimmer hinter dem Sitzungssaal passiert. Schlägt der disziplinierte Vorsitzende Manfred Götzl dann entnervt mit der Faust auf den Tisch? Besucht Richterin Michaela Odersky danach eine Yogastunde zur Entspannung? Schlüpft Richter Peter Lang gleich in seine Radlerhosen und tritt sich auf dem Heimweg die Wut aus dem Leib? Im Saal verziehen die fünf Richter keine Miene – selbst wenn sie vor Ärger explodieren könnten.

In der U-Bahn-Station am Gericht steht dann die Richterin und wartet auf den gleichen Zug. Ein erkennender Blick, ein Gruß. Kein Wort mehr. Könnte ja wieder einen Befangenheitsantrag geben, wenn das jemand sieht. Fünf Jahre haben wir jetzt zusammen in diesem fensterlosen Betonbunker ohne Tageslicht gesessen, haben 600 Zeugen gehört, 250 Anträgen gelauscht, 1100 Bilder aus dem Unterschlupf des NSU inspiziert. Wir haben den Vater des getöteten Halit Yozgat gesehen, der sich im Gericht auf den Boden warf und zeigte, wie er seinen sterbenden Sohn im Arm hielt. Und auch den Vater des mutmaßlichen NSU-Killers Uwe Mundlos, der als Allererstes darauf bestand, mit „Herr Professor“ angeredet zu werden: „Das steht mir zu.“

Dennoch kennen die Richterin und ich uns nur vom Sehen. Das aber intensiv. Seit fünf Jahren sehe ich sie jeden Dienstag, Mittwoch und Donnerstag auf der Richterbank Platz nehmen, sie ist die erste von links. Jede Woche sehe ich auch, wie Beate Zschäpe in den Saal geführt wird, in die erste Reihe, die zweite von rechts. Sie schaut hoch, ich schaue runter, sie schaut weg.

Anfangs musste ich noch erzählen, wie sie denn so ist. Dann wollten alle wissen: Wann redet sie endlich? Als sie nach 248 Tagen redete, war das Interesse weg. Es glaubte einfach niemand, dass sie nur das brave Frauchen war, das seinen mörderischen Männern in den Untergrund folgte. Seitdem werde ich nur noch gefragt: Wann ist der Prozess zu Ende? Immer wenn ich eine Antwort suche, sehen mich die Leute an, als wenn ich ein wenig verrückt wäre: vielleicht im Frühjahr, im Juni oder doch im Juli? „Welches Jahr?“, fragen die Kollegen dann und erinnern mich an eine alte Wette. Der Wettzettel hängt noch immer über meinem Schreibtisch: Das Urteil fällt im Juni, das hatte ich damals gewettet. Es war der Juni – 2016. Jetzt wette ich nicht mehr.

Man gewöhnt sich vieles ab. Spontane Entscheidungen zum Beispiel. Geht nicht, der Prozess unterwirft alle seinem strengen Takt. Dienstag, Mittwoch, Donnerstag – seit fünf Jahren für den NSU reserviert. Reisen? Nur in prozessfreien Wochen. Planung? Nicht möglich. Nichts ist vorauszusehen, alles zu erwarten, jederzeit. Wir sind in Gottes und Götzls Hand.

Nun, wo der Prozess wirklich zu Ende gehen könnte, fragen die Kollegen: Was machst du dann mit deinem Leben? Doch das ist erst die übernächste Frage. Die nächste ist: Was machen fünf Jahre Prozess aus einem? Stumpft man ab? Wird man müde? Oder wütend?

In erster Linie wird man natürlich älter. Das zeigt schon der Blick auf die anderen, deren Haare dünner, deren Bärte grauer geworden sind. Vorsichtshalber sieht man selbst nicht zu intensiv in den Spiegel. Wie lang fünf Jahre sind, zeigt auch der Blick auf die Pressetribüne. Am Anfang war sie überfüllt, nun sind viele längst weg: die einen pensioniert, die anderen haben woanders Karriere gemacht, als Korrespondent in Tel Aviv oder als Professor in Mainz.

Und es gibt Lücken, die haben sich nie mehr geschlossen. Im vierten Jahr des Prozesses starb der Justizwachtmeister, der die Mikrofonanlage bediente. Schon zuvor war die Münchner Anwältin Angelika Lex gestorben, die Seele der Nebenklage. In ihrer Küche hatten die Anwälte aus Berlin, Köln und Frankfurt den Prozess vorbereitet. In ihren Schlussplädoyers haben sie alle an Angelika Lex erinnert. Sie war ein besonderer Mensch. Zu ihrer Beerdigung kam sogar Richter Götzl.

Es sind alle mitgenommen von diesem Verfahren, nicht nur äußerlich. Wie ein unsichtbares Gift hat der Hass des NSU die Seele verätzt, Tropfen für Tropfen. Das Gefühl ist gewachsen, dass der Tod von zehn Menschen die Gesellschaft nur kurz erschüttert hat. Dass das Versprechen der Bundeskanzlerin, der Staat werde alle Hintergründe aufklären, unterlaufen wurde von Verfassungsschützern, die sich windelweich herauswanden und mit dem Segen ihrer Behörden großflächig schweigen durften. Dass Akten geschreddert wurden und die Verantwortlichen mit läppischen Disziplinarstrafen davonkamen. Dass Polizisten und Behördenleitern kein Wort des Bedauerns über die Lippen kam – obwohl sie die Familien der Getöteten über Jahre hinweg wie Kriminelle behandelt hatten.

Doch es gibt auch die anderen Tage. Wie im Sommer 2014, als die Frau vor Gericht auftrat, die einen Anschlag des NSU knapp überlebt hatte. Sie war 19, stand kurz vor dem Abitur, als im Laden ihrer Eltern, Flüchtlinge aus Iran, eine Bombe des NSU explodierte. Sie war in einer Christstollendose versteckt. Die junge Frau lag sechs Wochen im Koma. Doch sie machte noch im selben Jahr Abitur, studierte Medizin, sie ist nun Chirurgin. Und sie sagte vor Gericht: „Nein, jetzt erst recht! So leicht lasse ich mich nicht aus Deutschland rausjagen.“

Oben auf der Besuchertribüne stehen diejenigen, die sie gerne rausjagen würden. Grinsend winken sie den Angeklagten zu. Unten im Saal tätscheln die Frauen der Angeklagten Ralf Wohlleben und André E. ihren Männern das Knie und halten Händchen. Familientreffen im Gericht. Die Richter haben die beiden Frauen als Beistand ihrer Männer zugelassen. An manchen Tagen ist es gut, wenn die Familien der Ermordeten nicht im Saal sind.

Die Wohlleben-Verteidiger, selbst aus der rechten Szene, brachten es auch fertig, einen Kollegen als Vertreter in den Saal zu schicken, der zuvor 20 Jahre lang Sänger der Neonazi-Band Noie Werte war. Er lieferte den Soundtrack, mit dem der NSU seine ersten Bekennervideos unterlegte. Mittlerweile trägt der Neonazi-Sänger Anwaltsrobe. Der Sohn von Enver Şimşek, der an diesem Tag über seinen toten Vater redete, musste das aushalten.

Manches ist nicht auszuhalten. Zeugen aus der rechten Szene gähnten mit aufreizender Lässigkeit dem Richter über Stunden hinweg nur ein „Nö“ entgegen oder ein „Nicht dass ich wüsste“. In diesen Momenten wünschte sich mancher, dass das Gericht sie für ein paar Stunden in die Arrestzellen im Keller steckte. Doch das Gericht ließ alles stoisch über sich ergehen, es wollte keine Angriffsfläche bieten.

Anfangs machte einen das noch wütend, dann legte sich die richterliche Duldungsstarre auf die Seele. Wie ein Betondeckel. Irgendwann zählte ich nicht mehr nur die Verhandlungstage: 321, 322, 323, 324. Ich zählte jetzt auch die Treppenstufen von der Sicherheitskontrolle in den Saal: 50. Und die Schritte vom Gerichtssaal bis zum Wasserspender: 11. Die Schritte bis zum Kaffeeautomaten: 29. Und die bis zur Toilette: 35. Mehr Anlaufstationen gibt es in dem abgesperrten Bereich vor dem Saal nicht. Es fühlt sich an, als drehe man seine Runden auf dem Gefängnishof, auf braunem Klinker vor Sichtbeton, mit Beate Zschäpe als Zellennachbarin.

Zu diesem Zeitpunkt begann die Redaktion bereits beim Wort NSU zu stöhnen. Die Seiten füllten nun neue Ministerpräsidenten, geplatzte Koalitionen und der US-Präsident. Nur im Gerichtssaal ging es immer weiter und weiter. Es war die Zeit, in der ich zum ersten Mal die Spinnweben entdeckte, die von der Gerichtsdecke hängen – als würden wir eingesponnen in Saal A 101.

Aber es hilft nichts. Wir müssen weitermachen, jeden Tag mitschreiben, was passiert: die NSU-Protokolle, mehr als 12 000 Seiten in fünf Jahren. Weil das Gericht es abgelehnt hat, das Verfahren auf Tonband aufzunehmen. Weil kein Protokollant die Zeugenaussagen mitschreibt. Es gibt kein Gerichtsprotokoll, auch wenn das keiner glauben mag. Die Nachwelt kann nicht nachlesen, wie der Rechtsstaat mit der Mörderbande umging, die 13 Jahre unerkannt durch Deutschland zog. Deswegen sitzen wir hier, den Laptop auf den Knien.

„Wir arbeiten für die Geschichte“ – so trösten wir uns, wenn wieder mal der Ellenbogen schmerzt wegen der Sehnenscheidenentzündung. Aber wir halten ja alle durch: Richter Götzl hat sich die Hand gebrochen und weitergemacht. Verteidiger schleppen sich an Krücken oder zwischen ihren Krebstherapien in den Prozess. Alle hier wollen etwas zu Ende bringen.

Dabei wissen sie, dass nichts zu Ende ist. Mit jedem Tag in diesem Prozess ist das Gefühl gewachsen, dass die Demokratie bedroht ist. Denn der mörderische Hass, den der NSU auf alle Fremden hatte, hat gestreut in der Gesellschaft. Pegida und AfD schwadronieren von „Schuldkult“, „Kopftuchmädchen“ und erklären, das Dritte Reich sei nur „ein Vogelschiss“ in der erfolgreichen Geschichte Deutschlands gewesen. Sie verschieben jeden Tag das Tabu ein wenig weiter nach rechts.

Und der NSU? Der könnte jederzeit wieder loslegen. In anderer Form. Mit anderen Leuten. Genug von ihnen gibt es. Davon hat mich dieser Prozess überzeugt.

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SÜDDEUTSCHE ZEITUNG / SEITE DREI / 12.07.2018 

Am Ende

Eine versteinerte Angeklagte, johlende Neonazis und entsetzte Opferfamilien:
Das Urteil im NSU-Prozess ist gesprochen – das letzte Wort noch nicht

VON ANNETTE RAMELSBERGER

Ist dieser 11. Juli nun wirklich der Endpunkt, auf den dieser Prozess nach fünf Jahren, insgesamt 437 Verhandlungstagen, nach mehr als 600 Zeugen und 263 Anträgen hinstrebt? Man denkt, gleich wird es bestimmt wieder so sein wie immer: Irgendeiner stellt wieder einen Antrag. Irgendeiner hat wieder Kopfschmerzen. Und danach gehen wieder alle nach Hause.

Da steht Richter Manfred Götzl, 64, groß, hager, in schwarzer Robe, der Herr des NSU-Verfahrens, und er sagt nicht „Im Namen des Volkes“, sondern er sagt „Guten Morgen, Guten Morgen, Guten Morgen“, so wie an jedem Tag in den vergangenen fünf Jahren. Er lässt alle Platz nehmen. Doch dann strafft er sich, schaut in den Saal, sagt: „Bitte erheben Sie sich.“ Und schließlich spricht er die Worte: „Im Namen des Volkes.“ Worte, auf die die Frau vor ihm so lange gewartet hat.

Sie hat die Stunde vor dem Urteil unten im Keller des Gerichts gesessen, in einer Arrestzelle, wo sie unter einer Milchglaskuppel darauf gewartet hat, dass Justizwachtmeister sie in den Saal führen. Zwei mal zwei Meter, nur ein Holzbrett zum Sitzen hat sie da unten. Nichts lenkt sie ab von dem, was gleich kommt. Man erwartet, dass sie bleich ist, bleicher als sonst. Dass sie angespannt ist. Doch dann geschieht etwas Eigenartiges. Beate Zschäpe lächelt.

Diese Frau, angeklagt, gemeinsam mit ihren Gefährten Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt zehn Menschen ermordet,

15 Raubüberfälle begangen, zwei Bomben gelegt zu haben, diese Frau schlendert geradezu in den Saal. Sie zieht die Augenbrauen hoch, sie nickt fast herausfordernd den Fotografen zu – als genieße sie ihren Auftritt.

Der Richter hebt an.

Vor einer Woche hat sie ihn noch angefleht, ein Urteil zu fällen, „unbelastet von öffentlichem oder politischem Druck“. Sie hat ihm vorgehalten, dass jedes Wort von ihr, „und sei es noch so ernst und ehrlich gemeint“, gegen sie ausgelegt werde. Ihr letzter Satz war: „Bitte verurteilen Sie mich nicht stellvertretend für etwas, was ich weder gewollt noch getan habe.“

Sie scheint bis zuletzt darauf zu hoffen, dass das Gericht in ihr nicht das gleichberechtigte Bandenmitglied des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) sieht, sondern nur die abhängige Helferin ihrer Männer, die zwar wusste, was sie taten, sie aber nicht daran hinderte. Das würde bedeuten, dass Zschäpe in drei, vier Jahren wieder in Freiheit kommen könnte.

Sie schaut dem Richter unverwandt ins Gesicht. Dann fällt der Satz: „Schuldig des Mordes in zehn Fällen.“

Das bedeutet lebenslang. Und der Richter fügt noch hinzu: „Die Schuld der Angeklagten wiegt besonders schwer.“ Zschäpe kann also nicht schon nach 15 Jahren auf Freilassung hoffen. Sie ist jetzt 43 Jahre alt, sie wird eine alte Frau sein, bevor sie wieder aus der Haft kommt. Das Gericht hat ihr nicht abgenommen, dass sie nur die schwache Frau war, die aus Liebe zu ihren Männern in den Untergrund ging. Und dann abhängig war von ihren Gefährten.

Zschäpe steht da, als würde sie nicht verstehen. Sie starrt den Richter an. Sie hört: schuldig des versuchten Mordes in 32 Fällen, schuldig der Körperverletzung in

23 Fällen, schuldig des Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion, schuldig der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, schuldig des Raubs, schuldig der räuberischen Erpressung. So viel Schuld.

Aber das hört sie vielleicht schon nicht mehr. Zschäpe wirkt wie versteinert. Ihr Anwalt Hermann Borchert, auf den sie so viel Hoffnung gesetzt hat, steht neben ihr, als gehöre er nicht dazu. Sie dreht ihm den Rücken zu, so wie ihren alten Anwälten. Nur bei ihrem jungen Anwalt Mathias Grasel schaut sie kurz auf den Computer. Er zeigt ihr seine Presseerklärung. „Das Urteil ist falsch!“, heißt es dort. Es werde vom Bundesgerichtshof aufgehoben.

Hört sie das Urteil der anderen noch? Ralf Wohlleben, der ehemalige NPD-Funktionär, der die Hilfe für den NSU organisiert hat: zehn Jahre. André Eminger, der bekennende Neonazi und engste Vertraute des NSU: nur zweieinhalb Jahre. Holger Gerlach, der seinen Freunden jahrelang seinen Pass und den Führerschein zur Tarnung überlassen hat: auch nur drei Jahre. Und Carsten Schultze, der dem NSU die Tatwaffe überbrachte und kurz darauf aus der rechten Szene ausstieg, der einzige, der sichtbar bereut: Ihn verurteilt das Gericht ebenfalls zu drei Jahren. Zu Jugendhaft.

Carsten Schultze zuckt kurz zusammen. Ralf Wohlleben bleibt unbewegt wie immer. Gerlach macht sich klein ganz hinten auf der letzten Bank. Und André Eminger tut, was er all die Jahre tat. Er grinst. Er ist am besten weggekommen von allen. Ausgerechnet der Mann, der seinen Anwalt im Schlusswort sagen ließ, er sei mit Haut und Haaren Nationalsozialist. Der Mann, der auf seinem Bauch die Worte tätowiert hat: „Die Jew Die“ (Stirb Jude, stirb). Der kein einziges Wort im ganzen Prozess gesagt hat. Er kann sich Hoffnung machen, schon bald wieder freizukommen. Denn das Gericht hat ihn auch von der Beihilfe zum versuchten Mord freigesprochen. Denn es sei ihm nicht nachzuweisen, dass er schon im Jahr 2000 gewusst hat, dass seine besten Kumpel Morde planten. Damals hatte er für sie ein Wohnmobil angemietet, mit dem Mundlos und Böhnhardt eine Bombe nach Köln brachten. Bei der Detonation wäre eine junge Frau fast gestorben, sie wurde für ihr Leben gezeichnet. Die Anklage hatte deswegen zwölf Jahre Haft wegen Beihilfe zum versuchten Mord für Eminger gefordert. Richter Götzl aber sagt nun, Eminger habe zwar die gleiche Ideologie wie die NSU-Mitglieder gehabt, aber vermutlich sei das Vertrauensverhältnis zu den dreien im Jahr 2000 noch nicht so eng gewesen. Am Schluss aber war es sehr eng. Eminger hat Zschäpe bei der Flucht geholfen. Seine Frau war ihre beste Freundin.

Zweieinhalb Jahre, das ist so gut wie nichts. Oben auf der Tribüne beginnen seine Freunde zu klatschen. Ein halbes Dutzend Neonazis mit Bürstenhaarschnitt und schwarzen Hemden sind gekommen. Sie haben sich offenbar mit den Angeklagten Wohlleben und Eminger verabredet, sie alle tragen an diesem Tag schwarze Hemden. Wie eine Uniform. Früher trugen Böhnhardt und Mundlos gerne braune Hemden und gingen damit in das ehemalige KZ Buchenwald. Jetzt also Schwarz. Die Schwarzhemden klatschen.

Richter Götzl stoppt konsterniert. Er unterbricht sofort. Kein Klatschen hier. Doch das Grinsen von Eminger kann Götzl nicht stoppen. Der winkt seinen Freunden zu und küsst seine Ehefrau, die neben ihm als Beistand auf der Anklagebank sitzt. Bald ist die Familie wieder vereint.

Richter Götzl redet unbeirrt weiter. Dabei geht nun ein Raunen durch den Saal, ein Stöhnen, ein Ächzen – dort, wo die Familien der Opfer sitzen. Für sie ist das Lebenslang für Zschäpe keine Erlösung. Sie wollten Aufklärung, sie wollten die Helfer in Haft sehen. Sie hofften auf das Urteil wie auf ein Ereignis, das ihnen Seelenfrieden schenkt. Nun hören sie die Rechtsradikalen klatschen.

İsmail Yozgat, dem der NSU den Sohn genommen hat, hört Götzl reden, einen Banküberfall nach dem anderen rattert der Richter herunter, dazwischen die Morde, als wären sie gleichbedeutend. Götzl zählt die Schüsse der Mörder auf, er schildert, wie die Opfer starben. Schon ist er im Jahr 2006 angekommen, gleich ist er beim Mord an Mehmet Kubaşik am 4. April 2006, zwei Tage später wurde İsmail Yozgats Sohn Halit erschossen. Er war 20 Jahre alt. Man sieht, wie Vater Yozgat immer unruhiger wird. Wie er schwitzt. Er greift zu seiner Wasserflasche. Er klammert sich daran. Er schraubt sie auf. Er schüttet sich Wasser über den Kopf. Seine Frau legt ihm die Hand auf den Arm. Es hilft nichts. Plötzlich springt İsmail Yozgat auf. Er schreit laut: „La illahha illah.“ Immer wieder. „La illahha illah.“ Er hört gar nicht mehr auf. „La illahha illah.“ Die Worte sind Arabisch und heißen: Es gibt keinen Gott außer Gott.

Sofort stürzen Justizwachtmeister auf ihn zu und umstellen ihn. Und vorne blickt Richter Götzl auf. Gefühle irritieren ihn zutiefst. Man konnte das sehen, all die Jahre: sein hilfloses Räuspern, wenn weinende Zeugen hereinkamen. Seine beständige Mahnung, „zur Sachlichkeit zurückzukehren“. Und wie peinlich berührt Götzl war, als sich Vater Yozgat einmal auf den Boden des Gerichts legte, um zu zeigen, wie er seinen sterbenden Sohn fand, sein „Lämmchen“. Gefühle sind so viel unübersichtlicher als Paragrafen, so nah, so unvorhersehbar. Götzl hatte seine eigene Methode damit umzugehen. Er hat sie jedes Mal kurz abgefragt, dann abgeheftet und in Aktendeckel verbannt – wie vakuumverpackt, damit sie die aseptische Atmosphäre des Gerichtssaals nicht mehr stören.

Nun aber stören die Gefühle. İsmail Yozgat schreit vor Schmerz. Er hört nicht auf. „Herr Yozgat“, sagt der Richter, „seien Sie bitte ruhig, sonst können wir nicht fortsetzen.“ Und er mahnt den Vater, der vor Verzweiflung ganz außer sich ist. „Ich möchte keine weiteren Störungen haben, sonst muss ich notfalls Maßnahmen gegen Sie ergreifen, was ich nicht möchte.“

Bei den Rechtsradikalen hat Götzl nichts von Maßnahmen gesagt.

Götzl ist kein väterlicher Richter, der die Angehörigen der Opfer in Wärme hüllte oder den Angeklagten vermittelte, dass sie bei ihm gut aufgehoben sind. Götzl ist ein Technokrat des Rechts. Er wird seinem Ruf auch an diesem Tag gerecht. Er wendet sich niemandem zu, er hebt nichts heraus, er spult seine Argumente wie ein Sprechapparat ab – nur mit immer heiserer Stimme. Er gebraucht Worte, wie sie nur Juristen einfallen können. Für ihn ist der NSU nicht etwa eine Terrorzelle, sondern ein „Personenverband“. Er sieht Zschäpe als gleichberechtigtes Mitglied dieses Personenverbands, sogar als Gründungsmitglied. Und er hält sie in allen Punkten für schuldig. Nur die Sicherungsverwahrung, die die Bundesanwaltschaft gefordert hatte, verhängt er nicht. Sie sei „nicht unerlässlich“.

Götzl zeichnet das Bild einer Terrorbande, die sich von Anfang an dazu verabredet hat, eine Mordserie gegen Ausländer und Repräsentanten des Staates zu begehen, um eine Gesellschaftsordnung nach dem Vorbild des Nationalsozialismus zu schaffen. Die Taten sollten aber erfolgen, ohne sich dazu zu bekennen. Und zwar aus einem besonderen Grund: Man wollte erst später ein Bekennervideo veröffentlichen, um dann in der Öffentlichkeit einen umso stärkeren Eindruck zu machen. Und zwar, weil die Gruppe „die Machtlosigkeit des Sicherheitsapparats und die Schutzlosigkeit der angegriffenen Bevölkerungsgruppe zeigen wollte“. Genau so, wie es dann auch kam.

Götzl argumentiert in seiner Urteilsbegründung, dass Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe schon vor ihrem Untertauchen immer härtere Straftaten verübten – bis zu einer Puppe mit Judenstern, die sie an einer Autobahnbrücke aufhängten. Dann, so Götzl, entschlossen sie sich, in der Illegalität zu leben und ihre Aktionen „auf einer höheren Eskalationsstufe fortzusetzen“. Götzl sieht vor allem eines als ganz besonders belastend für Zschäpe: Sie hat nach dem Tod ihrer Gefährten den gemeinsamen Unterschlupf angezündet, um Hinweise auf Helfer des NSU zu vernichten und – das Wichtigste – sie hat die 15 Bekennervideos für die Morde verschickt. „Ohne ihre Zusage, die Wohnung in Brand zu setzen und die Bekennervideos zu verschicken, wären die Anschlagstaten ihres ideologischen Gehalts beraubt worden“, sagt Götzl. Zschäpe also brachte in den Augen des Gerichts das Werk des NSU erst zu Ende, sie machte aus den Taten von schlichten Mördern eine ideologische Terrorserie. Sein Fazit: „Ihr Tatbeitrag war nicht von untergeordneter Bedeutung.“

Götzl geht mit diesem Urteil ein Risiko ein, eines, das ihm widerstrebt. Er setzt sich der Gefahr aus, vom Bundesgerichtshof korrigiert zu werden. Und das ist das Schlimmste, was ihm widerfahren könnte auf den letzten Metern seiner Karriere. Er hätte Zschäpe nur wegen Beihilfe verurteilen können und ihr gleichzeitig die Brandstiftung in ihrer Wohnung und die Gefährdung der alten Nachbarin als Mordversuch anrechnen können. Allein das hätte ein Lebenslang möglich gemacht.

Aber Götzl ist Bergwanderer, und er und das Gericht gehen den steinigen Weg. Den, der eine Revision viel riskanter macht. Sie wissen, wie eng der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs die Mittäterschaft auslegt. Sie wissen, dass dort jeder Halbsatz ihrer Argumente abgeklopft wird. Sie müssen sich ihrer Sache sehr sicher sein – ihres juristischen Könnens auch. Denn dieser Prozess ist nicht nur eine Prüfung für die Angeklagten, er ist auch die letzte große Herausforderung für Manfred Götzl: entweder die Krönung oder der Tiefschlag zum Ende eines Richterlebens, falls das Urteil aufgehoben wird.

Götzls höchstes Ziel war es in all den Jahren, keinen Fehler zu machen. Fünf Jahre lang ist ihm das gelungen. Fünf Jahre hat er unermüdlich Zeugen befragt, Anträge beschieden, Sachverständige auseinandergenommen. Er hat 46 Befangenheitsanträge überstanden und 263 Anträge beschieden. Und er duldete nicht den Hauch eines Zweifels an seiner Autorität. Er hatte das Wort – und nicht mal seine Richterkollegen wagten zu reden. Selbst wenn er heiser ist, wie jetzt bei diesem Urteil – er bringt es selbst zu Ende. Und er ist ein Mann von geradezu schmerzhafter Akkuratesse. Nur nicht in seinem Urteil.

Im mündlichen Urteil geht er über die Anklagepunkte geradezu kursorisch hinweg. Wofür die Ankläger und die Verteidiger Tage brauchten, Wochen sogar, das erledigt er in viereinhalb Stunden. Dass er hier seine Gedanken, seine Argumente der Öffentlichkeit vortragen soll, das kommt ihm offenbar wie Beiwerk vor. Das schriftliche Urteil ist ihm sicher wichtiger, das Urteil, das in einem oder zwei Jahren dem Bundesgerichtshof vorliegt. Da muss dann jeder Halbsatz sitzen.

Längst hat sich der Angeklagte Gerlach wieder seinem Kindle-Computer zugewandt, in dem er immer liest. Längst hört der Angeklagte Eminger nicht mehr so intensiv zu, und hält lieber die Hand seiner Frau. Götzl erklärt, warum wer wie viele Jahre Haft bekommt. Er sagt, dass die Familienväter Wohlleben und Eminger „besonders haftempfindlich“ seien, dass „Gesamtstrafen“ gebildet werden, es geht um „Tateinheit“ und „Tatmehrheit“ – lauter Fachbegriffe. Götzl steckt in einem Sprachkorsett, das Juristen anlegen wie einen Panzer. Gerlach hält er zugute, dass er durch die Offenbarung seines Wissens zur Aufklärung beigetragen hat. Bei Carsten Schultze, der ebenfalls alles ausgepackt hat, sagt er das nicht. Schultze hat als einziger wirklich Reue gezeigt. Doch er muss nun für drei Jahre in Haft. Die Angehörigen hatten um Milde für ihn gebeten.

Und dann kommt noch so ein Götzl-Satz. Wie nebenbei. „Der Haftbefehl gegen André Eminger wird aufgehoben“, sagt er. Ein Schrei wie eine Explosion, ein Klatschen, wie eingepeitscht. Auf der letzten Bank der Zuschauerreihe erheben sich die Schwarzhemden. Es ist ihr Sieg. Ihr Freund André kommt frei. Sofort.

„Seien Sie sofort ruhig, sonst muss ich Sie jetzt noch aus dem Saal weisen“, sagt Richter Götzl. Aber er lässt sie nicht aus dem Saal weisen.

Es gibt offenbar Wichtigeres. Er muss ja noch darauf hinweisen, wie man Revision gegen sein Urteil einlegen kann. Nicht per E-Mail bitte schön. Und auch nur mit elektronischer Signatur. Er weist sogar noch auf die Erklärungen dazu hin , auf der Seite www.justiz.de. Nichts ist ihm zu viel.

Unten ist die Mutter von Halit Yozgat schon aufgestanden von ihrem Sitz. Sie hält es nicht mehr aus. Sie ist ganz still. So wie ihr Mann schreien muss, so muss sie schweigen.

Götzl macht eine ganz kurze Pause. Dann sagt er: „Damit sind wir am Ende des Verfahrens. Ich darf mich von den Zuschauern verabschieden, vor allem von denen, die hier regelmäßig teilgenommen haben.“ Er bedankt sich bei allen. Er nickt. „Die Hauptverhandlung ist geschlossen.“

Für Götzl ist das ein Gefühlsausbruch.

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SÜDDEUTSCHE ZEITUNG / BUCH ZWEI / 02.03.2019

Bild, Historisches, Reportage

In Rausch und Braus

Bissige Politiker, Bierdunst, derbe Reden:
Seit 100 Jahren zieht der politische
Aschermittwoch Menschen in seinen Bann.
Heute managen PR-Agenturen das Spektakel.
Manchmal aber schickt der liebe Gott
einen Blitz. Einen echten

VON ANNETTE RAMELSBERGER

Und dann holt der Braumeister persönlich das Rednerpult aus der Rumpelkammer, schleppt es auf die Bühne des Wolferstetter Kellers, dorthin, wo es schon damals gestanden hat. Aus hellem Holz ist es, die Beine verschrammt, vergessene Reißzwecken bohren sich ins Holz, das Fach, wo die Redner ihre Manuskripte ablegten, ergraut von Staub. Kein Zweifel: Da steht das Original.

Das Pult, an dem der große Vorsitzende Franz Josef Strauß der Republik am Aschermittwoch die Bußpredigt hielt, wo er zum Rundumschlag ausholte gegen die Sozis, die Kommunisten, die Liberalen, die Dilettanten, gegen alle, die nicht seiner Meinung waren. Umklammert hat er dieses Pult, darauf eingeschlagen, über ihm Schweißperlen verspritzt. „Da ist die DNA vom Strauß noch drauf“, sagt der Braumeister.

Jetzt hält es den Mann nicht mehr, der bisher ganz still im Saal gestanden hat. Erwin Huber, der für die CSU die „Lufthoheit über den Stammtischen“ erkämpft hat. Er hat Strauß und den Aschermittwoch jahrzehntelang begleitet. Huber erklimmt die Bühne im Festsaal der Vilshofener Brauerei. Leer ist der Saal jetzt und kalt und still. Nichts von dem Gedränge, das hier einst herrschte, nichts von den Rauchschwaden und Wortsalven, die über ihn hinwegzogen wie über ein Schlachtfeld. Wie magisch angezogen geht Huber zum Rednerpult, wie im Reflex schießt sein Arm hoch, die Faust ballt sich – als wenn der Geist des politischen Aschermittwochs in der Rumpelkammer nur gelauert hätte, um in den nächsten Redner zu fahren.

Es ist ein Geist, der so oft totgesagt wurde und dennoch jedes Jahr wieder aufersteht. Ein Geist, der rumpelt und schnauft, geifert und rauft, dem vor nichts graust. Der das Fingerhakeln liebt und das Vors-Schienbein-Treten zur Kunstform erhoben hat. Der sich mitten hineinwirft in die politische Schlammschlacht, mit einer Lust, die jede übel riechende Sumpfblase wie eine Seifenblase schillern lässt, die aus jeder groben Beleidigung ein Bonmot macht, und der ein Publikum anzieht, das nicht genug kriegen kann von ihm – und das seit 100 Jahren. Der Geist des Aschermittwochs ist ein Poltergeist.

Tausende ziehen jedes Jahr nach Niederbayern, aus Peine, aus Hildesheim, aus Hessen, aus Schwerin. Alle wollen sie den krachledernen Exorzismus erleben, am ersten Tag der Fastenzeit, an dem der Kopf noch brummt vom Fasching. Egal, bei welcher Partei, in welchem Zelt, in welchem Wirtshaus man sitzt. Ein riesiger Stammtisch steht hier, der die Republik beschallt.

Mit keinem kann man dem Geist des Aschermittwochs besser nachspüren als mit Erwin Huber. Er war fast alles, was man in der CSU werden kann: Generalsekretär, Finanzminister, Staatskanzleichef, Parteivorsitzender. Als junger CSU-Mann hat er hier im Wolferstetter Keller noch Strauß zugejubelt, als Generalsekretär später in Passau die Massen eingepeitscht für Strauß’ Nachfolger: den selbstgefälligen Streibl, den eifrigen Stoiber, den ernsten Waigel. Für den letzten, Horst Seehofer, dann nicht mehr. Der, sagt Huber ein wenig enttäuscht, „hat immer gefremdelt mit dem Aschermittwoch“. Huber nimmt ihm das übel. Wer den Aschermittwoch nicht ehrt, der hat ihn nicht verstanden. Der Aschermittwoch ist in Hubers Augen weder Gaudi noch folkloristische Preußen-Belustigung im CSU-Komödienstadl. „Der politische Aschermittwoch ist die Krönungsmesse im politischen Jahreslauf der CSU“, sagt er. „Man ist größer rausgegangen, als man reingegangen ist.“

Ein Rausch erfasste den Saal in all diesen Jahren, aus Festbier, Blasmusik, Zigarettenrauch, Männerschweiß und Jubel, aus Schenkelklopfen, Selbstverliebtheit, Spott und drangvoller Enge. „Wir haben uns danach gegenseitig auf die Schultern gehauen: Hund samma scho“, sagt Huber. Man kann diesen Begriff am ehesten so übersetzen: „Uns kann keiner.“

Huber, mittlerweile 72, hält nun nicht mehr die Lufthoheit über den Stammtischen. Er ist 2018 in den politischen Ruhestand gegangen und studiert jetzt Philosophie. In seinen Vorlesungen geht es gerade um den Gottesbegriff bei Feuerbach. Er könnte aber auch gut eine Arbeit über den metaphorischen Sinn der Beleidigung schreiben, unter besonderer Berücksichtigung der ethnologischen Voraussetzungen beim Aschermittwoch. Er brächte dafür alle Voraussetzungen mit.

Man muss kurz festhalten, dass der politische Aschermittwoch der CSU nicht gehört. Dass sie ihn noch nicht einmal erfunden und seine politischen Möglichkeiten erst spät entdeckt hat. Auch der Wolferstetter Keller ist längst nicht mehr ihre Hochburg. Keiner weiß das besser als Erwin Huber. Denn wenn die Fernsehkameras in den Achtziger- und Neunzigerjahren über das Publikum schwenkten, sah er vorne am ersten Tisch seinen Schwiegervater sitzen – ausgerechnet einen eingefleischten Sozialdemokraten. Hubers Schwiegervater jubelte im Wolferstetter Keller den Sozialdemokraten zu – seit 1975, als Franz Josef Strauß die Stadt Vilshofen verließ, weil der Saal für den Andrang nicht mehr ausreichte. Die CSU zog ins 20 Kilometer entfernte, größere Passau und überließ der SPD den Geburtsort des Aschermittwochs. Strauß’ Alter Ego, Bayernkurier-Chef Wilfried Scharnagl, hatte abgeraten, den Wolferstetter Keller zu verlassen. „Bleibt da“, hat er die CSU beschworen. „Das ist das Original.“ Ein Original verlässt man nicht.

Das Original ist eine kleine Stadt von gut 16 000 Einwohnern am Zusammenfluss von Vils und Donau, eine der ältesten Städte auf deutschem Boden, im Jahr 776 zum ersten Mal erwähnt. Das Stadtbild beherrschen Kirchturm, Stadtturm, Kloster und Flugplatz. Dort, wo später Franz Josef Strauß persönlich seine Cessna aufsetzen sollte. Die Geschäfte waren winzig in den Sechzigerjahren, so winzig, dass der Claudi Fritz und die Chefin von Feinkost Klag große Tische aus den Läden auf den Stadtplatz schleppten, ihre Waagen daraufstellten und dort von riesigen Käselaibern den Emmentaler heruntersäbelten.

In Pergamentpapier verteilten sie ihn an die Bauern. Zu Hunderten kamen die vom Donauufer herauf, wo sie ihre Kühe und Ochsen verkauft hatten, oder von der Oberen Vorstadt, wo der Saumarkt war, oder vom Taubenmarkt an der Rennbahn. Denn Vilshofen hatte den größten Viehmarkt in Niederbayern. Einmal wurden 3000 Stück Vieh an einem Tag umgeschlagen. Durchgefroren waren die Knechte, die Viehhändler, die Bauern danach, Durst hatten sie, Hunger sowieso – aber der Aschermittwoch ist im katholischen Bayern ein Fasttag. Gegen den Hunger half Käs, gegen den Durst Festbier. Und schon 1919 erkannte der Bayerische Bauernbund, dass da noch was fehlte, etwas Geistiges. So rief am 5. März 1919 der Bauernbund zur „Großen Volksversammlung“ und heizte den Bauern ein. Das war die Geburtsstunde des politischen Aschermittwochs.

Schon bald saßen in den Wirtshaussälen der Stadt jedes Jahr politische Grüppchen, die Bauern gingen von Saal zu Saal. Wer am deftigsten redete, hatte die meisten Zuhörer. Kuriere steckten den Rednern kleine Zettel zu, mit den Gemeinheiten, die die Konkurrenz im Nachbarsaal gerade abgefeuert hatte. Sofort schossen die Redner zurück. Wortgewaltige Fernduelle entzündeten sich, oft diskutierten die Zuschauer mit. Bauern und Politiker von Angesicht zu Angesicht im unverstellten O-Ton-Süd.

Bis in die Dreißigerjahre hinein lebte dieses Spektakel fort. Unter den Nationalsozialisten durfte nicht mehr gestritten werden. Erst 1948 rief die Bayernpartei wieder nach Vilshofen und füllte den größten Saal. Ihr Chef Josef Baumgartner war ein paar Wochen zuvor aus der CSU ausgetreten, ein echter Aufreger. Damals war die CSU die kleine Partei, der Lokalzeitung nur einen Einspalter wert. Baumgartner bekam eine halbe Seite. Er wollte Bayern „in die Freiheit“ führen, abnabeln von Bonn. Das verfing. Drinnen im Saal waren 1000 Leute, 3000 hörten draußen bei eisiger Kälte zu. Immer mehr Massen strömten zur Bayernpartei – bis sie fünf Jahre später einen Kontrahenten bekam, einen jungen, unbekannten Mann von der CSU. Er hieß Franz Josef Strauß.

Strauß hat den Geist von Vilshofen am heftigsten beschworen und von der Donau aus gen Bonn gepoltert, am liebsten gegen Brandt, Schmidt, Wehner. Er warf der SPD-Regierung 1975 vor, einen „Saustall“ aus Deutschland gemacht zu haben, nannte den Ost-Politiker Egon Bahr einen „dilettantischen Amateurdiplomaten“, Bundeskanzler Helmut Schmidt ein „Sicherheitsrisiko ersten Ranges“ und krönte seine Kanonade mit dem Satz: „Sozis hoaßens, Kommunisten sans.“ Strauß war nicht allein. Der CSU-Bundestagsabgeordnete Franz Xaver Unertl sagte, man müsse die protestierenden Studenten, „diese verlausten Lackeln“, hinausschmeißen aus den Universitäten. Die Sozialdemokraten seien 1969 nur an die Macht gekommen, „weil wir die roten Ochsen zu spät kastriert haben“. Im Vergleich dazu klingt das Wort „Krampfhenne“, das 1992 der seinerzeitige Ministerpräsident Max Streibl für die bayerische SPD-Chefin Renate Schmidt fand, fast wie ein verunglücktes Kompliment.

Renate Schmidt war lange eine der wenigen Frauen, die sich zum Aschermittwoch trauten. Im Dirndl stieg sie auf das Podium, packte sich das alte Pult, hob den Maßkrug und prostete in den Saal – mit Wasser. So wie Stoiber. So wie Seehofer. So wie Strauß. „Bier – das ist tödlich“, sagt Renate Schmidt, „bei der Hitze. Maximal ein Schluck.“ Nur für die Kameras, als Dekoration. Strauß schwitzte Hemden durch, sein Nachfolger Edmund Stoiber ganze Anzüge. Schmidt reiste mit drei Dirndln an – denn nach dem Hochamt im Wolferstetter Keller ging es auch bei ihr weiter, am Nachmittag, am Abend. Und die Leute erwarten an diesem Tag eben mehr. „Eine anständige Rede beginnt erst nach 45 Minuten“, sagt die frühere Bundesfamilienministerin. An die zwei Stunden hat sie hingekriegt. Aber: „Was Vernünftiges sagt man da nicht mehr.“

Vernunft ist an diesem Tag auch nicht gefragt. Eine Diskussion mit einem General über Friedenspolitik, wie sie das versuchte? „Vergessen Sie’s! Das wird als Schwäche ausgelegt.“ Die Grünen haben mal Informationsabende probiert, auch das lief nicht. Der Aschermittwoch ist der Tag der starken Worte. Manchmal berauschen sich die Redner an sich selbst wie 1993 Max Streibl, der, gebeutelt von Amigo-Vorwürfen, seine Zuhörer unter tosendem Applaus mit „Saludos Amigos“ begrüßte. Kurz danach war er sein Amt los. Aber manchmal schämen sich die Redner am Tag danach auch – ein bisschen. Die wenigsten geben es zu. „Eigentlich bin ich doch eine wohlerzogene Frau“, sagt Renate Schmidt. Aber der Geist des Aschermittwochs ist auch in sie gefahren. In den Neunzigerjahren wollte die SPD in der Partei die Frauenquote einführen, und ein Minister schimpfte, er könne sich deswegen ja nicht kastrieren lassen. Da rief Renate Schmidt in den Saal: „Manche Männer haben zwischen den Beinen zu viel von dem, was ihnen im Kopf fehlt.“ Heute wird sie da ein bisschen rot.

„Die Versuchung, dass die Sicherungen durchbrennen, ist groß“, sagt Erwin Huber. „Wenn der Verstand wieder einsetzt, wenn man am nächsten Tag in der Zeitung liest, was man gesagt hat, dann wirkt es so hart und polemisch.“ Augenzwinkern, Grinsen, Feixen – all das lässt sich nur erleben, aber schlecht aufschreiben.

Es war dann aber auch nicht mehr ganz so lustig, nachdem die CSU Vilshofen verlassen hatte. Strauß übte nicht mehr das rhetorische Fingerhakeln am hölzernen Rednerpult. Spätestens 1975, als er als erster westdeutscher Politiker den chinesischen Parteichef Mao Zedong getroffen hatte, war er in weltpolitische Sphären entrückt. 7000 Leute fasste die Nibelungenhalle, doch selbst in Passau hatten nicht alle Platz. Strauß’ Fans kampierten schon in der Nacht vor der Tür. Wenn um 9 Uhr morgens die Türen aufgingen, stürmten die Menschen an die Tische. Zur Beruhigung gab es sofort eine Maß Bier. Aber keine Wurst – das hatte Strauß’ Frau Marianne verboten. Die Passauer hatten gedacht, sie könnten den hungrigen Gästen wenigstens einen Leberkäs auftischen – aber nix da. Der Fasttag galt. Käs und Fisch, eine Breze und eine Semmel dazu, das wird bei der CSU bis heute eingehalten. Bei der SPD in Vilshofen gibt es zum Weißbier Weißwürste. „Das sind ja auch die Gottlosen“, sagt Huber und grinst.

Fußkalt war es in der Nibelungenhalle, so kalt, dass sich Strauß unters Rednerpult einen elektrischen Heizlüfter stellen ließ – damit er warm wurde, bevor er sich heiß redete. Franz Meyer, heute der Passauer Landrat, war damals der junge Wahlkreisgeschäftsführer der CSU. Er musste dafür sorgen, dass alles glattlief. Aber natürlich lief nichts glatt. CSU-Generalsekretär Gerold Tandler wollte kurz draußen Luft schnappen – die Ordner ließen ihn nicht mehr herein. Schüler hielten Strauß Zettel fürs Autogramm hin – und er unterschrieb im Getümmel ihre Entschuldigungen: „Der Schüler X war in der Aschermittwochskundgebung und hat deshalb den Unterricht nicht besuchen können. Gezeichnet: FJS.“ Und im Restaurant servierte der Wirt doch Leberkäs. Dann verschwand auch noch das Rednerpult. Strauß-Fans hatten es als Andenken mitgenommen.

1988 starb Strauß. Max Streibl und Edmund Stoiber füllten danach die Nibelungenhalle, doch langsam bröckelte das alte Gebäude. 2004 wurde es abgerissen. Und mit ihr wurde auch der Aschermittwoch aus Passaus Mitte ausgetrieben.

Ende Februar 2019, im hundertsten Jahr des Aschermittwochs, steht Erwin Huber weit draußen im Gewerbegebiet in einem gigantischen, seelenlosen Raum. Vor seinen Füßen zeichnen Architekten mit Kreide ein, wo ein Stand mit Tulpenzwiebeln aufgebaut wird. Für eine Gartenmesse. Huber besucht die Dreiländerhalle, die CSU wird hier am Aschermittwoch einmarschieren. Er schaut unsicher, er muss sich erst orientieren. Dort hinten, zeigt er, kommt der bayerische Ministerpräsident in den Saal, die Kapelle spielt dazu den Bayerischen Defiliermarsch. Statt des Ministerpräsidenten werden da gerade glänzende Gartenkugeln für Beete reingeschoben. Dort vorne, sagt Huber, ist die Bühne, wo Stoiber redete. Jetzt stehen dort Rasentrecker. Huber schüttelt den Kopf. Dann sagt er: „Wir reden von einer verflossenen Zeit.“

Der Aschermittwoch hat sich verwandelt. Medienagenturen haben ihn kameratauglich gemacht. Sie haben ihm Ecken und Kanten genommen, den Bierdunst vertrieben, und geraucht werden darf auch nicht mehr. Junge, fesche Menschen sitzen jetzt in den ersten Reihen. Bauern? Keine Zeit. Knechte? Gibt es nicht mehr. Blasmusik? An den Rand gedrängt. Und der Geist des Aschermittwochs? Findet nicht hierher. Huber schaut lange in die Halle, zu den Rasentreckern. „Wenn man es freundlich sagt: Der Aschermittwoch hat sich zeitgemäß weiterentwickelt.“

Auch in Vilshofen hat sich der Aschermittwoch zeitgemäß weiterentwickelt, vielleicht nicht ganz so mediengerecht glatt poliert wie in Passau. Seit 2012 lädt die SPD in ein Volksfestzelt, mit 4000 Leuten. Einmal war sogar ein echter Bundeskanzler da, Gerhard Schröder, 1999. Zuvor hatte er das Rathaus besucht, kurz mit dem Bürgermeister angestoßen und nebenbei die Klosterschwestern des Kindergartens beleidigt. Die waren in voller Ordenstracht mit ihren Kindergartenkindern und Blumensträußchen ins Rathaus gekommen, um den Kanzler zu begrüßen. Schröder schaute auf ihre Schleier und warf ihnen nur hin: „Ist bei Ihnen der Fasching noch nicht zu Ende?“ Dann verlangte er Jever.

Der liebe Gott schickte umgehend einen Schneesturm und ließ bei der SPD den Blitz einschlagen. Einen echten. Schröder saß mit 5000 Anhängern zehn Minuten lang im Dunkeln.

Auch wenn die Stadt offenbar eine sehr direkte Verbindung zum Himmel hat, leicht hat es Vilshofen nicht. Die SPD ist ihr zwar treu geblieben all die Jahre, aber so recht findet die SPD-Zentrale in Berlin keinen Zugang zu diesem bayerischen Spektakel. Jedes Jahr schickt sie jemand anderen, selten die erste Garde. 2009, als Frank-Walter Steinmeier als Kanzlerkandidat antrat, zog er es vor, am Aschermittwoch in Cuxhaven zu sein. „Uns haben sie den Martin Schulz geschickt“, klagt Florian Gams, 35, seit fünf Jahren SPD-Bürgermeister der Stadt. „Der Saal war halb leer. Und ich habe Steinmeier dann einen Brief geschrieben: Er muss sich nicht wundern, dass er nicht gewählt wird. Der politische Aschermittwoch ist nicht in Cuxhaven, er ist in Vilshofen!“

Sie kämpfen hier einen Abwehrkampf, einen Kampf, der schon 1972 begann. Da haben sie erfahren, dass ihnen der eigene Landkreis weggenommen wird. Sie haben es nicht geglaubt. Strauß werde das nie zulassen. Er ließ es zu. Die gesamte CSU-Fraktion im Stadtrat von Vilshofen ist damals aus der CSU ausgetreten. Nach zwei Jahren traten die meisten wieder ein. Dann zog Strauß auch noch nach Passau und benutzte Vilshofen nur noch als Landebahn, wegen des Flugplatzes an der Donau. Mehr hatte er dann mit Vilshofen nicht mehr zu tun.

„Das hat Vilshofen sehr verletzt“, sagt Helene Schweikl. 87 Jahre alt ist die Vilshofener Bäckersfrau jetzt. Früher ist sie noch mit Körben voll Semmeln zum Viehmarkt gegangen, die Semmel ein Fünferl, die Breze sechs Pfennig. Im Saal beim Strauß war sie nie, „das war was für Männer, die haben da politisieren können“. Aber natürlich hat auch sie sich geehrt gefühlt von dem hohen Besuch. Als Strauß ging, war das wie enttäuschte Liebe. „Ein bisschen beleidigt waren wir schon“, sagt Schweikl. Vermutlich hat auch der Geist des Aschermittwochs im Wolferstetter Keller geheult und am alten Rednerpult gerüttelt. Strauß kam nie wieder. „Aber er gehört immer noch dazu“, sagt milde die alte Bäckerin.

Man fühlt sich geehrt hier, wenn die große Welt vorbeikommt. Doch wenn es drauf ankommt, helfen die Großkopferten nicht viel. Sind die Niederbayern für sie vielleicht doch einfach nur ein folkloristischer Hintergrund, damit es gute Bilder im Fernsehen gibt? Eine Art „Deppenhausen“, wie es das Streiflicht der SZ mal mutmaßte? Das Realität gewordene Klischee?

Es gab eine Zeit, in der man sich in Niederbayern noch dagegen auflehnte. 1967, als der Kreisheimatpfleger Ludwig Maier einen erbosten Brief an die Bild-Zeitung schrieb. Die hatte gemeldet, dass in Vilshofen begriffsstutzige Bauern viel Bier getrunken und wenig kapiert hätten. „Ihr Bericht ist eine Beleidigung aller aufrechten Niederbayern“, schrieb Maier. „Wir sind keine Bierdimpfel und Raufbolde, diese schlechte Charakterisierung weisen wir energisch zurück.“ Für Maier, heute 82, war der politische Aschermittwoch immer eine ernste Sache. Der Eisenbahner und Heimatforscher hat sich die volle Dröhnung gegeben: erst die Bayernpartei, die er immer noch wählt, am Abend die Grünen, gern auch noch die SPD, wenn er es geschafft hat. Und beim Franz Josef Strauß war er auch. Einmal hat der große CSU-Vorsitzende Ludwig Maier sogar bemerkt. Der hatte sich einen Zwischenruf erlaubt. Strauß blickte kurz auf und sagte: „Mein lieber junger Mann, da muss ich an ihrem Verstand zweifeln.“ Maier hat Strauß’ Anpfiff nicht als Kritik genommen, eher als Ritterschlag.

Heute wehrt sich keiner mehr, heute arbeitet man mit dem Klischee. Heute ist der politische Aschermittwoch eine einzige große PR-Veranstaltung, eine Fernsehproduktion. Wichtig sind Bühne, Licht, Beschallung. Es geht um Fernsehminuten, Radiobeiträge, und zwischen den Parteien schwirren jetzt die Tweets hin und her so wie früher die Zettelkuriere. Jede Erwähnung zählt für die Parteien und auch für die Orte, wo sie reden.

In Vilshofen nehmen sie es professionell. „Wir kommen uns nicht komisch vor“, sagt Bürgermeister Gams. „Noch nie hat einer zu mir gesagt: Die machen euch zu Deppen. Wir sind stolz, dass hier etwas Einmaliges entstanden ist.“ Die Werbung sei unbezahlbar. Immer wieder fragten Touristen, wo Strauß gesprochen hat. Niederbayern ist aber auch nicht mehr der Landstrich, der er einst war. Der Bezirk hat mit die niedrigste Arbeitslosenquote in Bayern, exportiert in die ganze Welt und nennt sich „Aufsteigerregion“. Aus dem Minderwertigkeitskomplex von gestern ist Stolz geworden. Da kann man mit dem Aschermittwochsklischee auch locker umgehen.

Quer durch die Republik gibt es jetzt Aschermittwoche, der Werbeeffekt wirkt. Selbst die Bundeskanzlerin lädt jedes Jahr zum politischen Aschermittwoch ein – nach Demmin, das liegt in Vorpommern. Es ist das Niederbayern des Ostens; von der Donau aus gesehen ist es so abgelegen, wie es Niederbayern einst von Bonn war.

Dieses Jahr wird der Geist des Aschermittwochs zum hundertsten Mal beschworen, zum Jubiläum auch endlich wieder im lange verwaisten Wolferstetter Keller. Die SPD kehrt an die Wurzeln zurück. Auf dem Podium wird wieder das alte Rednerpult stehen, das mit der DNA von Franz Josef Strauß. 100 Jahre lang hatten die Männer an diesem Pult das Sagen, die SPD macht damit Schluss. Drei Frauen werden sich daran abarbeiten: Bundesjustizministerin Katarina Barley, Bayerns SPD-Vorsitzende Natascha Kohnen und die SPD-Europa-Abgeordnete Maria Noichl.

Am Ende muss der Poltergeist des Aschermittwochs noch Manieren lernen. Ihm bleibt auch nichts erspart.

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